April / Mai 2020

HAMBURGER WIRTSCHAFT 36 FOTOS: MEDIZINHISTORISCHES MUSEUM HAMBURG,PICTURE-ALLIANCE/AKG-IMAGES ZEIT REISE JAN FREITAG redaktion@hamburger-wirtschaft.de Peepshows geprägten St. Pauli für eine Revolution. Wegen der Ansteckungsgefahr geriet käuflicher Sex seinerzeit in Verruf – wobei auch die zunehmende Containerisierung samt ausbleibender Seeleute für fallende Umsätze sorgte. So veränderte sich zügig die Subkultur im Amüsierviertel: Massenkultur, Musik und Tourismus statt Sexindustrie hieß fortan die Devise, und auf dem Höhepunkt der Epidemie zog das Musical „Cats“ ab 1986 Besucher an, die lange Zeit einen großen Bogen umden Kiez gemacht hatten. Zwei Jahre später machte Corny Littmanns „Schmidt Theater“ das Viertel für die bürgerliche Bohème betretbar, bevor der „Mojo Club“ 1989 auch internationales Publikum anlockte. „Hipster hatten die Gegend für sich entdeckt“, erinnert sich Bordell­ besitzersohn und Buchautor Michel Ruge, „und machten sie zur Speerspitze der Gentrifizierung.“ Ohne Aids ist der Zuschnitt des Amüsiervier­ tels mit seiner heutigen Mischung aus alternativer Club- und lukrativer Massenkultur daher ähnlich undenkbar wie Hamburgs Kanalisation ohne Cholera. Was SARS-CoV-2, kurz Corona, demStand­ ort Hamburg künftig bringt, bleibt abzuwarten. Aber frühere Pandemien und Krankheitsausbrüche zeigen: Vermutlich wird das Virus kaum einen Stein auf demanderen lassen. Pest: Als der „Schwarze Tod“ Hamburg um 1350 erreichte, starben mindestens 6000 Menschen und da- mit etwa 80 Pro- zent der Bewohner. Cholera: Offiziell tötete die Epide- mie 1892 genau 8605 der insge- samt 16956 Infi- ziertenundbrachte Teile vonHandel und Infrastruktur der Hansestadt zumErliegen. Spanische Grippe: Weil sich die Influ- enza fast unge- bremst verbreitete und auf die Ver- heerungen des ErstenWeltkrieges traf, existieren kaum Statistiken darüber. HIV/Aids: Die Zahl der Neuinfektio- nen hatte 1985 mit mehr als 400 ihren Höchstwert. Seit Beginn der Epidemie 1978 sind in Hamburg rund 2300 Perso- nen an Aids oder den Folgen gestor- ben. Wohle aller, die Bereitschaft zur Abwehr unsicht­ barer Gefahren auch den Klimawandel bremsen könne, haben Seuchen also schon öfter strukturel­ lenWandel bewirkt. Zum Beispiel die Pest. Bis tief in die Neuzeit, weiß Experte Ortwin Pelc, musste sie mangels medizinischer Kenntnisse zwar „für alles herhal­ ten, was irgendwie infektiös war“. Mitte des 13. Jahr­ hunderts aber ließ der „Schwarze Tod“ nachweis­ lich die Landwirtschaft derart kollabieren, dass mit dem Handwerk auch Hamburgs Handel erblühte und die Hansestadt zum pulsierenden Herz des Städtebundes machte. Als dieses am Ende des Ersten Weltkrieges kaum noch schlug, hätte wohl auch die Spanische Grippe eine heilsame Wirkung gehabt. Doch durch den „Zusammenbruch der gesamten Struktur“, wie ihn Prof. Philipp Osten vom Medizinhistorischen Museum amUKE imNDR schilderte, „wurde eigent­ lich gar nichts unternommen“. Die Kranken seien untergebracht worden, aber es habe weder richtige Prävention gegeben noch vernünftige Statistiken, also auch kaummessbare Konsequenzen. Damit unterscheidet sich die Pandemie der Spanischen Grippe von einer anderen, zwar weni­ ger dramatischen, aber lokal betrachtet ähnlich wirkungsvollen: Aids. Als sich das HI-Virus Anfang der 1980er-Jahre in Deutschland verbreitete, sorgte es besonders im damals noch von Prostitution und Als die Influenza am Ende des Ersten Weltkrieges auch nach Hamburg kam, wurden die Kranken zwar untergebracht, doch Prävention gab es keine Schon in Zeiten der Pest sollte eine spe­ zielle Schutzkleidung vor Ansteckung schützen

RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz