Gehen Hamburg in den kommenden Jahren die – weiblichen wie männlichen – Busfahrer, Fachverkäufer, Kranführer oder Pflegekräfte aus? Wenn nichts getan wird, stehen der Hansestadt in manchen Branchen jedenfalls erhebliche Engpässe bevor: So das Ergebnis des Arbeitsmarktmonitors, den das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) im Auftrag der Handelskammer entwickelt hat. Demnach könnten 2040 annähernd 200 000 Fachkräfte in Hamburg fehlen – die Mehrzahl davon (gut 162 000) in Berufen, die eine Berufsausbildung vorsehen.
Schon seit Längerem werden Fachkräfte in der Hansestadt immer dringender gesucht: Laut aktueller Konjunkturbefragung zählt der Fachkräftemangel weiterhin zu den Top 3 der größten wirtschaftlichen Risiken, die Unternehmen für sich sehen. Im dritten Quartal 2024 konnte fast jedes zweite Unternehmen (49,9 Prozent) nicht alle offenen Stellen binnen zwei Monaten besetzen; mehr als die Hälfte davon (53,7 Prozent) bemühten sich vergeblich um das Gewinnen von Mitarbeitenden mit abgeschlossener Lehre – und immerhin 49,5 Prozent um Meister, Fachwirte oder Personen mit sonstigem Weiterbildungsabschluss.
Anders sieht es bei Arbeitswilligen ohne Abschluss aus: Auch wenn einzelne Branchen wie die Gastronomie derzeit massive Schwierigkeiten haben, selbst ungelerntes Personal zu finden, besteht bei Arbeitskräften ohne Berufsabschluss laut HWWI schon heute ein Überangebot von rund 59 000 Personen – und dieses könnte bis 2040 auf fast 100 000 Menschen steigen.
Je nach Berufsfeld und Branche fällt der vom HWWI prognostizierte Bedarf allerdings unterschiedlich aus: Während er etwa bei Menschen mit geistes- oder naturwissenschaftlicher Ausbildung vergleichsweise gering bleibt, wird 2040 eine besonders große Knappheit in den Berufsfeldern „Verkehr, Logistik, Schutz und Sicherheit“ sowie in der „Rohstoffgewinnung, Produktion und Fertigung“ bestehen.
Besonders betroffen ist dabei die Branche der „sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen“, in der schon 2030 mehr als 15 000 Arbeitskräfte fehlen könnten. „Diese Branche umfasst viele Bereiche, insbesondere das Zeitarbeitsgewerbe“, erklärte Prof. Michael Berlemann, Wissenschaftlicher Direktor des HWWI, bei der Präsentation der Studie. „Ein guter Teil dieser Personen fehlen eigentlich in der Industrie oder im Gesundheitswesen.“
Junge Mütter in Arbeit bringen
Die drohende dramatische Situation „stellt die Hamburger Wirtschaft vor sehr große Herausforderungen“, betonte Sascha Schneider, Kammer-Vizepräses und Chief People Officer bei Montblanc. „Doch wie die HWWI-Auswertung zeigt, gibt es Hebel, dem entgegenzuwirken.“
Welche Maßnahmen welche Effekte zeitigen und wie sich ein höherer technischer Fortschritt auswirkt, hat das HWWI in 144 Szenarien für Hamburg und Deutschland bis 2045 durchgespielt. Demnach könnte das Hamburger Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2040 im Jahresschnitt um 1,27 statt um 0,77 Prozent wachsen.
Besonders deutliche Effekte ergäben sich etwa, wenn die Erwerbsbeteiligung junger Mütter bis 2030 auf das der Männer anstiege: 2040 stünden dann allein rund 15 000 mehr Arbeitskräfte mit dualem Berufsabschluss zur Verfügung – und das jahresdurchschnittliche BIP-Wachstum bis 2040 würde von 0,77 auf 0,86 Prozent anwachsen.
Dafür sind allerdings verbesserte Rahmenbedingungen erforderlich: „Die kostenlosen Kitas waren ein wichtiger Schritt“, erklärte dazu Kammer-Hauptgeschäftsführer Dr. Malte Heyne bei der Präsentation der Studie. „Aber es muss noch mehr passieren: Flexible Arbeitszeiten sind ein Mittel der Wahl, das sich noch stärken ließe. Und die Politik muss die Hilfen bei der Kinderbetreuung stärken, damit alle schnell in ihren Job zurückkehren können.“
Mehr Zuwanderung – aber welche?
Ein stärkerer Zuzug aus dem Ausland hat unter den aktuellen Bedingungen weniger Effekte als erhofft, ermittelte der Arbeitsmarktmonitor: Eine Erhöhung der jährlichen Nettozuwanderung von 300 000 auf 350 000 Personen führt demnach lediglich zu einer Steigerung der jahresdurchschnittlichen BIP-Wachstumsrate um 0,03 Prozent.
„Wie wissenschaftliche Studien zeigen, wird ein großer Teil der Zuwanderung erst mit großer Verspätung arbeitsmarktrelevant“, kommentiert Prof. Berlemann – etwa aufgrund fehlender Deutschkenntnisse sowie der mangelnden oder zu langsamen Anerkennung von Qualifikationen. „Der Effekt würde deutlich höher ausfallen, wenn vorrangig ausgebildete Fachkräfte zuwandern und mit weniger bürokratischem Aufwand in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten.“
Dem schließt sich Heyne an: „Wir müssen unterscheiden zwischen der Fluchtmigration, die beim Schließen der Fachkräftelücke nicht unmittelbar hilft, und der gezielten Zuwanderung qualifizierter Menschen, die wir in unseren Mangelberufen brauchen und die sofort helfen.“ Um Letztere für Hamburg zu gewinnen, fordert die Kammer weiterhin die schnellere Anerkennung von Qualifikationen und die Stärkung der Weiterbildung; außerdem, so Heyne, müsse sich das internationale Image Hamburgs verbessern und die Internationalität des Standorts erhöhen.
Später in Rente gehen
Wie wirkt es sich aus, wenn wir länger arbeiten müssen? Für die Analyse nutzte das HWWI ein Szenario, in dem das gesetzliche Renteneintrittsalter in fünf Schritten von 2025 bis 2030 auf 70 Jahre angehoben wird, also jedes Jahr um knapp acht Monate. „Eine solche Rentenreform wird es so sicher nicht geben“, erklärt Berlemann. „Das Szenario zeigt auf, was theoretisch möglich wäre, wenn wir sehr schnell reagieren würden.“
Und eine solche Maßnahme hätte deutliche Effekte: Die BIP-Rate würde auf 0,95 Prozent steigen – und die Fachkräftelücke im Jahr 2040 allein bei Arbeitskräften mit dualem Berufsabschluss um knapp 18 000 Personen schrumpfen.
Dabei berücksichtigte das HWWI auch die Tatsache, dass manche Menschen früher – und dann mit Abschlägen – in Rente gehen werden, etwa aufgrund der körperlichen Belastungen ihres Berufs. Eine Einbeziehung des typischen Rentenbeginns in einzelnen Berufen sei mithilfe des amtlichen statistischen Materials zwar nicht möglich, erklärt Berlemann, dies würde im Modell jedoch „implizit durch die räumliche Struktur der Daten aufgefangen“.
Maßgebliche Wirkung könnte zudem eine Steigerung des technischen Fortschritts haben, insbesondere durch Automatisierung: Eine Erhöhung der Faktorproduktivität um 0,2 auf 0,7 Prozent würde zwar zu einer größeren Fachkräftelücke führen, die BIP-Rate jedoch auf 1,04 Prozent jährlich erhöhen.
„Die aktuellen Fachkräfte-Daten zeigen eindrucksvoll: Wir müssen unsere Anstrengungen intensivieren und grundlegend neu denken. Unternehmen sollten dem Fachkräftemangel noch viel stärker mit Innovation und Technologieoffenheit begegnen“, betont Heyne.
Wohlstand hat seinen Preis: „Die Politik ist gefordert, endlich wirksame Schritte zu gehen, auch wenn sie unpopulär erscheinen: Wir werden mehr und länger arbeiten müssen, wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen“, so der Hauptgeschäftsführer.
Dashboard
Das HWWI-Dashboard erlaubt die Simulation von 144 Szenarien, die sich aus Kombinationen von technischem Fortschritt, Lohnentwicklung, Rentenalter, Erwerbsbeteiligung und Zuwanderung ergeben. Die daraus resultierenden Knappheiten oder Überangebote an Arbeitskräften werden jeweils in Grafiken dargestellt. Alle Grafiken lassen sich samt Daten herunterladen.
Strategiepapier
Die aktualisierte Fachkräfte-Strategie der Handelskammer präsentiert die Ergebnisse der HWWI-Studie und der aktuellen Konjunkturbefragung. Sie finden es unter www.hk24.de/arbeitsmarkt