Willkommen im Schloss

Vor 125 Jahren bauten sich Hamburgs Honoratioren direkt neben der Handelskammer ein neues Rathaus, das die Nähe von Wirtschaft und Politik einmal ohne hanseatisches Understatement zeigte.
Nachdem das alte Rathaus an der Trostbrücke dem Großen Brand von 1842 zum Opfer gefallen war, entstand ein halbes Jahrhundert später in unmittelbarer Nachbarschaft zur Handelskammer ein neues Rathaus.

Von Jan Freitag, 9. Dezember 2022 (HW 6/2022)

Der Fremdenführer, das muss man ihm lassen, zeigt Gespür fürs hanseatische Selbstbewusstsein. „Willkommen im Schloss“, sagt er beim Rundgang durch die heiligen Hallen Hamburger Politik und grinst seinem Publikum aus sieben Bundes- und Nachbarländern süffisant zu. Denn natürlich soll das Rathaus – Mahagoni, Marmor, Gemälden zum Trotz – das genaue Gegenteil feudaler Herrschaftssitze sein.

Ein Ort „freier Meinungsäußerung“, wie Bürgermeister Johannes Versmann bei der Einweihung des Gebäudes am 26. Oktober 1897 sagte, Sandstein gewordener Beleg kaufmannsstolzer Eigenständigkeit, die sich als Antithese aristokratischer Erbmonarchien verstand. Wer 125 Jahre später das auf 16 Säulen dorischer Bauart errichtete Kreuzgewölbe des Foyers durchschreitet, zur Bürgerschaft emporsteigt und zwei, drei Türen hinter sich lässt, betritt hingegen etwas, das der Guide als „Pfeffersack-Geschmack“ bezeichnet.

Zum 125. Geburtstag des Hamburger Rathauses haben HW-Fotograf Michael Zapf und Rita Bake im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung einen reich bebilderten, gut recherchierten Jubiläumsband herausgegeben: „Das Hamburger Rathaus. 125 Jahre – 125 Geschichten“. Auf 272 Seiten (26 Euro) werden darin nicht nur Architektur und Inneneinrichtung, Gebäude- und Umgebungsgeschichte dargestellt, sondern auch das „Who’s Who“ der mehr oder weniger illustren Gäste und Gastgeberinnen und Gastgeber. Sie reichen vom vergessenen Bauarbeiter bis zum letzten deutschen Kaiser, von Schulklassen bis Reisegruppen, von Königin Elisabeth II. bis Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, von Uwe Seeler bis Udo Lindenberg.

Kaisersaal, Turmsaal, Bürgermeistersaal, Phönixsaal, Festsaal – staatspolitisch mögen sich die freskendekorierten, blattgoldbeschlagenen, ölbildverzierten, tropenholzgetäfelten, ledertapezierten Räume vom herrschenden Hochadel umliegender Fürstentümer und Königreiche emanzipieren; ästhetisch zeigen sie, was der Hansestadt wichtiger war als freie Meinungsäußerung: aller Welt ihren Aufstieg aus Ruinen zu zeigen. Diese lag schließlich ein halbes Jahrhundert zuvor in Trümmern. Gut 1800 Gebäude fielen dem Großen Brand von 1842 zum Opfer, darunter das alte Rathaus an der Trostbrücke.

Weil Streiks und Revolution, Cholera und Reichsgründung die Grundsteinlegung verzögert hatten, holte sie der Hamburger Architekt Martin Haller erst 1886 nach und schuf ein Prachtexemplar im Stile der norddeutschen Neorenaissance als protestantisches Gegenstück zum katholischen Imponiergehabe. Doch die Handelskammer im Rücken, die das Feuer fast unbeschadet gelassen hatte, war Understatement offenbar ähnlich unangemessen wie die räumliche Trennung vom Handelsherz der Stadt.

Wobei sich die Nähe von Wirtschaft und Politik nicht nur im gemeinsamen „Ehrenhof“ zeigt. Sie steckt überall in, besser: an einem Rathaus, das als Sitz von Landesregierung und -parlament streng genommen gar keines ist. Die Fassade zum Beispiel zieren zwar 20 Kaiser und neun Heilige. Von Bäcker und Bauer über Kaufmann und Makler bis hin zu Schiffer und Zimmermann bringen es die bürgerlichen Berufe allerdings auf gerade einmal eine Skulptur weniger. Auch, dass im Inneren nicht nur Lehrlinge, sondern auch Frauen abgebildet wurden, widersprach dem damaligen Standesbewusstsein allmächtiger Männer und war damit seiner Zeit voraus.

Wer allerdings die Porträts der 20 verstorbenen Bürgermeister seit Rathauseröffnung betrachtet, sucht – wie unter den acht lebenden – vergebens nach weiblichen. Aber das könnte im Wandel begriffen sein. Die aktuelle Bürgerschaft, lobt der Guide im unveränderten Plenarsaal, sei 2020 das jüngste Landesparlament Europas gewesen und der Frauenanteil mit 41 Prozent überdurchschnittlich. Die Zeiten, sie ändern sich auch im Monument einer Epoche fortwährenden Wachstums, der Hamburg groß, reich und mächtig machte. So groß, reich und mächtig wie ihr bürgerliches Schloss.

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