Die Zukunft liegt im Norden

Norddeutschlands Wirtschaft ist gefragt wie nie. 890 000 Unternehmen spielen hier ihre Stärken aus – von erneuerbarer Energie über Ernährung bis Tourismus.
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Gemessen an der Bruttowertschöpfung ist Hamburg die größte Industriestadt Deutschlands.

Von Kerstin Kloss, 10. Juni 2022 (HW 3/2022)

Alexander Anders, Geschäftsführer der IHK Nord mit Sitz in Hamburg, spricht von einer „Trendwende“. Endlich. Jahrzehntelang hatte sich die deutsche Wirtschaftskraft zunehmend im Süden konzentriert, ein klares Süd-Nord-Gefälle bestimmte die Realität. Jetzt zieht der Norden als Zukunftsregion immer mehr Investoren an – ein leuchtendes Beispiel dafür ist eine geplante Gigafabrik im Kreis Dithmarschen (Schleswig-Holstein), wo das schwedische Hightech-Unternehmen Northvolt ab 2025 nachhaltige Batterien für Elektroautos fertigen will. Schleswig-Holsteins Wirtschaftsminister erwartet, dass sich weitere Unternehmen entlang der Achse Heide-Hamburg ansiedeln.

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Wandern und Radeln an der Ostsee: Der norddeutsche Wirtschaftsraum hat auch beim Tourismus großes Potenzial.

Für Anders ist das kein Zufall: „Unternehmen siedeln sich da an, wo sie günstige und verfügbare Energie finden“, erklärt er. So hatten in den 1960er- und 1970er-Jahren die damals neu errichteten Atomkraftwerke eine Art Sogwirkung: Im niedersächsischen Stade etwa entstand das Dow-Werk, das rund drei Millionen Tonnen Chemikalien im Jahr produziert. Und das ist heute nicht anders: „Wir erleben ein Stück weit eine Renaissance“, sagt Anders, „aber jetzt mit nachhaltig erzeugter, grüner Energie als Treiber.“ Der Krieg in der Ukraine habe der deutschen Wirtschaft ihre problematische Versorgungsabhängigkeit aufgezeigt. „Norddeutschland bietet die Chance, verlässlich Energie zu bekommen, die resilient gegenüber Krisen und Lieferkettenproblemen ist“, betont der IHK-Nord-Geschäftsführer, „weil wir Wind und Sonne haben.“ 

Unternehmen siedeln sich da an, wo sie günstige und verfügbare Energie finden.

Alexander Anders

Nicht nur Naturkräfte gibt es in den norddeutschen Ländern reichlich – auch die Zusammenarbeit spielt eine wichtige Rolle. Eine Analyse der IHK Nord von 2021 ermittelte einen wahren „Flickenteppich“ aus bi- und multilateralen Kooperationen. „Wir als Wirtschaft fordern, dass die norddeutschen Länder enger zusammenarbeiten“, unterstreicht Anders in diesem Zusammenhang. Wie das funktionieren kann, macht die IHK Nord auf bislang einzigartige Weise vor: Sie gibt 13 Industrie- und Handelskammern aus den fünf norddeutschen Ländern Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein eine gemeinsame Stimme – und damit insgesamt knapp 890 000 Unternehmen.

Was aus Sicht der IHK Nord jedoch fehlt, ist eine Wirtschaftspolitik aus einem Guss. Denn die norddeutschen Bundesländer haben einen strategischen Nachteil gegenüber dem starken Süden, wenn sie weiterhin einzeln agieren. „Nur gemeinsam können wir uns gegen diese Wettbewerber durchsetzen“, stellt Anders klar.

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Alexander Anders, Geschäftsführer der IHK Nord

Dieses Ziel setzt sich auch das Unternehmerkuratorium Nord (UKN), zu dem fünf IHK-Präsides aus fünf norddeutschen Ländern sowie die vier Präsidenten der Unternehmensverbände Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Nord (Hamburg und Schleswig-Holstein) gehören. Einmal jährlich treffen sich die norddeutschen Regierungsoberhäupter mit den UKN-Vertretern. Auf der Konferenz Norddeutschland im April präsentierte der Präses der Handelskammer Hamburg, Prof. Norbert Aust, als Vorsitzender der IHK Nord den „3-Punkte-Plan zur Stärkung der norddeutschen Zusammenarbeit“ der IHK Nord.

Das Impulspapier setzt drei Schwerpunkte: Angesichts des Transformationsprozesses der Wirtschaft soll erstens ein neuer „norddeutscher Spirit“ das Wachstum in der Region vorantreiben. Zweitens gilt es, die Zusammenarbeit und die gemeinsame Vermarktung voranzutreiben, insbesondere bei den Themen Digitalisierung, Energiewende, Förderung und Ansiedlung wertschöpfungsintensiver Unternehmen. Drittens unterstreicht das Papier, dass eine koordinierte norddeutsche Wirtschaftspolitik eine ständige, schlagkräftige Organisationsstruktur auf Ebene der Staats- und Senatskanzleien benötigt – ähnlich der IHK Nord auf Wirtschaftsseite. „Anstelle von Kleinstaaterei müssen wir im Bundesrat ein gemeinsames Abstimmungsverhalten sicherstellen“, forderte Aust.

Anstelle von Kleinstaaterei müssen wir im Bundesrat ein gemeinsames Abstimmungs­verhalten sicherstellen.

Norbert Aust

Die Stärken des Nordens gehen über die Energie- und Industriepolitik hinaus. So sind die maritime Wirtschaft und Infrastruktur mit mehr als 50 Milliarden Euro Wertschöpfung pro Jahr eine tragende Säule der deutschen Exportwirtschaft: „Außenwirtschaft liegt in der DNA von Norddeutschland“, konstatiert Alexander Anders. Um die internationale Position der Region zu stärken, haben die Handelskammern Hamburg und Bremen im Februar eine norddeutsche Hafenkooperation initiiert. Damit notwendige Infrastrukturprojekte rasch umgesetzt werden, fordert die Wirtschaft zudem eine beschleunigte Planung – etwa beim Ausbau der Ostseeautobahn A20 quer durch Norddeutschland.

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Die deutsche Seefischerei setzte 2020 noch 269 Millionen Euro um. Wichtig für die Region ist auch die Fischverarbeitung: Diese erfolgt komplett in den norddeutschen Bundesländern, insbesondere in Bremen.

Der Ukraine-Krieg bedeutet zwar einen „extremen Bruch“ in der globalen Wirtschaft, doch Anders sieht diesen ökonomisch auch als Chance: „Wir können uns im Hinblick auf die sich wandelnde Weltordnung neu positionieren.“ So kann er sich etwa vorstellen, dass die Werften vom deutlich erhöhten Bundeswehr-Etat profitieren. Denn Deutschland sei „nach wie vor im Spezialschiffbau führend, unter anderem für die Marine“.

Nur gemeinsam können wir uns gegen unsere Wettbewerber durchsetzen.

Alexander Anders

Wie sich der Krieg auf die Ernährungswirtschaft hierzulande auswirkt, ist noch unklar. Sicher aber ist, dass Bundesländer wie Niedersachsen ein überproportionales Gewicht in dieser Branche haben. Dazu gehört etwa der größte deutsche Geflügelzüchter Wiesenhof aus der PHW-Gruppe, die ihren weltweiten Umsatz in den vergangenen Jahren stetig steigern konnte – was dem gesamten Gebiet zugute kam: „Der Kammerbezirk Oldenburg ist deshalb gestärkt durch die Corona-Krise gekommen, weil der private Konsum stark zugenommen hat“, betont Anders.

Die IHK Nord spricht mit einer Stimme für 13 Industrie- und Handelskammern aus den fünf norddeutschen Ländern, jüngster Neuzugang ist die IHK Hannover. Fünf Schwerpunktthemen stehen im Fokus: Außenwirtschaft, Energie und Industrie, Ernährungswirtschaft, Maritimes und Infrastruktur, Tourismus. Unter der Maxime „HANSE 4.0 – Eine Agenda für die Zukunft Norddeutschlands 2040“ zeigt die IHK Nord auf, wie die Region ihre Stärken nutzen, sich weltweit als Wirtschaftsstandort etablieren und das Süd-Nord-Gefälle ausgleichen kann.

Federn lassen musste pandemiebedingt hingegen der Tourismus, mit über 20 Prozent Anteil an der Bruttowertschöpfung einzelner Regionen ein weiterer wichtiger Wirtschaftsfaktor im Norden. Hier forciert nicht nur die IHK Nord die gemeinsame Vermarktung des Standorts: Derzeit erarbeiten die 20 Tourismusorganisationen der Länder, Kreise und Städte der Metropolregion Hamburg gemeinsam mit den Handelskammern ein Tourismusentwicklungskonzept, das bis Anfang 2023 abgeschlossen sein soll. Die bisherige Analyse zeigt laut der dwif-Consulting GmbH „großes Potenzial beim Aktivtourismus vom Wasser über das Radfahren und Wandern“.

Die Metropolregion Hamburg versteht sich als „Motor Norddeutschlands“ und will diese Rolle „mit stärker integrierten und ganzheitlichen Ansätzen für Innovation, Planung, Mobilität und Tourismus“ weiter ausbauen. Mitte Mai wurde eine gemeinsame Erklärung der Metropolregion als „Zukunftsregion für Erneuerbare Energien und grünen Wasserstoff“ verabschiedet. Bereits im Dezember 2021 startete eine Machbarkeitsstudie zur Realisierung eines Innovations- und Wissenschaftsparks in diesem Bereich. Ende Juni werden erste Ergebnisse auf die Frage erwartet, ob eher ein Verbund mehrerer Standorte oder ein einziger gemeinsamer Standort infrage kommt, und im zweiten Halbjahr sollen konkrete Umsetzungs- und Handlungsempfehlungen folgen. So geht Trendwende.

Metropolregion Hamburg

Die Metropolregion Hamburg umfasst neben der Stadt Hamburg 17 Kreise und Landkreise sowie drei kreisfreie Städte. Die Zusammenarbeit regelt ein Staatsvertrag. Die Handelskammer Hamburg gehört zu den Trägern, die an einer Zukunftsagenda in Bereichen wie Wirtschaft, Verkehr, Tourismus oder Energie arbeiten, um die Wettbewerbsfähigkeit stärken. Partner aus Wirtschaft und Sozialträgern haben sich zudem in der Initiative Pro Metropolregion Hamburg zusammengeschlossen. Vorsitzender des Vorstands ist Dr. Malte Heyne, Hauptgeschäftsführer der Handelskammer Hamburg.

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