Deutschlands Norden hat viele Facetten. Er ist flach. Er ist stürmisch. Er ist schön. Er ist rau. Er ist weit und eng und modern und traditionell. Er beherbergt Stadtstaaten wie Hamburg, Messezentren wie Hannover, Automobilcluster wie Wolfsburg. Doch über weite Flächen ist er noch immer ländlich geprägt, baut Obst und Getreide an, betreibt Viehzucht und Grünlandwirtschaft. Und er erzeugt nicht nur Agrarprodukte, sondern verarbeitet sie auch: Kaffeeröstereien sind hier ebenso ansässig wie Schlachtereien, Brotproduzenten oder Gewürzhersteller.
Wie bedeutend die Lebensmittelbranche für den Norden ist, zeigt schon ihr Anteil am Umsatz des verarbeitenden Gewerbes in der Region: Er liegt bei 17 Prozent – fast doppelt so hoch wie im föderalen Durchschnitt. Erstaunlich. Wirklich? Nicht für Denise Ring! Obwohl Baden-Württemberg (selbstredend) mehr Weinberge hat und Bayern (natürlich) mehr Brauereien, obwohl der größte Zuckerproduzent in Mannheim sitzt und der größte Rindfleischproduzent im Allgäu, obwohl Mühlendichte und Einzelhändler südwärts wachsen, erwirtschaften die fünf norddeutschen Bundesländer fast ein Drittel der Umsätze der Ernährungswirtschaft in ganz Deutschland.
Die Ernährungsexpertin der IHK Nord beschreibt ihr Einsatzgebiet denn auch als „vielfältige Schnittstelle entlang aller Wertschöpfungsketten der Lebensmittelbranche“. Denise Ring und die 13 Kammern der IHK Nord sind also für Firmen von mal lokaler, mal nationaler, oft genug auch globaler Strahlkraft zuständig – von ländlichen Kleinbetrieben bis zu Großkonzernen. Die Stärken dieser vielfältigen Unternehmenslandschaft aber liegen in der Diversität.
Dank der Schlachtfabriken der Tönnies Holding ist Niedersachsen bundesweit führend in der Schweinezerteilung. Bremen dominiert in der Fischverarbeitung, Schleswig-Holstein profitiert überproportional von der Produktion von Futtermitteln und Fleisch. Öle oder Fette hingegen sind Schwerpunkte von Mecklenburg-Vorpommern oder Hamburg – einer Stadt, die auch für „sonstige Nahrungsmittel“ steht: von Kaffee und Tee über Würze und Soßen bis zu Fertiggerichten, Süßwaren und weiteren Agrarprodukten, die viele kaum in der dicht besiedelten Metropole vermuten würden.
Ganz anders sieht es bei Äpfeln aus. Auch wenn sich das Alte Land größtenteils über Niedersachsen erstreckt: In der Hansestadt wachsen viele jener 300 000 Tonnen, die alljährlich ins ganze Bundesgebiet gehen. Im größten geschlossenen Obstanbaugebiet Europas wird jeder sechste Apfel in Deutschland geerntet, die Exportquote beträgt knappe zehn Prozent. Rund 4000 Personen sind in Produktion und Distribution beschäftigt, dieselbe Zahl kommt bei der Ernte hinzu.
„Wir sind ein echter Wirtschaftsfaktor“, sagt Jens Anderson vom Plantagenverband Elbe-Obst. Und wer den Marketingbeauftragten einer Vereinigung mit 100 Millionen Euro Umsatz von Äpfeln reden hört, hält sie fortan weniger für Agrarerzeugnisse als für Gottesgeschenke. „Fräulein, Rocket, Sweetango, Kissabel, herrlich“, schwärmt Anderson vom Portfolio der 350 Gemeinschaftsbetriebe, das weit über die Klassiker Jonagold und Elstar hinausgeht. „Unsere Bauern sind bei aller Tradition innovativ und kreativ“ – bestens vorbereitet also fürs veränderte Konsumverhalten.
Im Alten Land, der deutschen Kernobstkammer, ist lokale Nachhaltigkeit gefragt – und ein guter Teil der Produktion wird auf 58 Wochenmärkten der Hansestadt direkt oder über Zwischenhändler auf dem Großmarkt Hamburg vermarktet. Auf dem bundesweit größten Markt seiner Art setzen rund 240 Obst- und Gemüsehändler, darunter 110 der lokalen Erzeugergemeinschaft EZG, allein zwei Milliarden Euro jährlich um.
60 Jahre nach seiner Gründung am Deichtorplatz wird „das grüne Herz der Stadt“, wie Sprecherin Alexandra Adler das Areal zwischen Eisen- und Autobahn, Flug- und Seehafen nennt, wohl wieder 1,5 Millionen Tonnen Ware umschlagen. Das meiste, was der Großmarkt „strahlenförmig verteilt“, bleibt zwar in der Metropolregion; zum Einzugsgebiet zählen aber auch Skandinavien und Osteuropa.
Unsere Bauern sind bei aller Tradition innovativ und kreativ.
Jens Anderson
Lokale Nachhaltigkeit steht auch im Zentrum einer Initiative, die 111 Betriebe aller Lebensmittelsegmente bündelt, um Kommunikation, Synergieeffekte, also die Wettbewerbsfähigkeit der Metropolregion zu fördern: foodactive. Marktführer wie Harry, Hella, Darboven und Block House arbeiten hier mit „Frischlingen“ wie innofood, Elbtaler, TofuTown und fritz-kola an einer Art sortenreiner Markenvielfalt – oder wie es foodactive-Geschäftsführerin Annika Schröder ausdrückt: „Junge Hipster versorgen mit Alteingesessenen gemeinsam ihre Region.“
Trotz des starken Bezugs auf lokalen Vertrieb hätten sie aber auch den Export über die Landes-, gar Bundesgrenzen hinaus im Blick, während „Fachexperten, Netzwerker, Trendschnüffler und kreative Köpfe“ laut der Homepage der Initiative an Lebensmitteln von heute für den Konsum der Zukunft basteln.
Abseits der ausgedehnten Stall- und Ackerflächen, die Niedersachsen mit zwei Drittel Marktanteil zum Primus inter Pares der norddeutschen Ernährungsindustrie machen, ist auch Hamburg zentral für die Lebensmittelbranche – und exzellent auf die Zukunft vorbereitet: mit Hafen und Infrastruktur, Hochschulen und Start-up-Kultur, Dienstleistungszentren und Technologieparks, von Lebensqualität, Weltoffenheit, Nachtleben ganz zu schweigen. Erst das Gesamtpaket, sagt Annika Schröder, mache Stadt und Umland „für alle Ernährungssegmente und Betriebsgrößen attraktiv“.
Die Deutschlandzentrale des Konzernmultis Nestlé, mit 800 Angestellten eine Wandsbeker Institution, profitiert ebenso vom urbanen Sog wie der Seevetaler Salatgärtner Behr oder die HHLA, bei der alle erdenklichen Güter umgeschlagen werden – vom Keim über die Frucht bis zur Verpackungsmaschine.
Keine Frage: Bei durchschnittlich 2500 Einwohnerinnen und Einwohnern pro Quadratkilometer ist der Bauernstand selbst im erweiterten Hamburger Speckgürtel chronisch unterbesetzt. Aber sobald es um Weiterverarbeitung, Qualitätsmanagement, Vermarktung oder Distribution geht, schließt die Stadt zu den Flächenstaaten ringsum auf: Von der Fleischpastete bis zum veganen Brotaufstrich, von der Vollfettmargarine bis zur Diätlimonade ist in der Hansestadt alles vertreten, und das Ernährungsgewerbe ist „ein wichtiger Partner anderer Wirtschaftsbereiche“, betont Denise Ring von der IHK Nord.
Bei foodactive versorgen junge Hipster mit Alteingesessenen gemeinsam ihre Region.
Annika Schröder
Maschinenbau und Verpackungsindustrie, Dienstleistungssektor, Handwerk und Logistik, sogar Gesundheitswesen und Tourismus profitieren vom Ernährungszweig, in dem laut Bundesagentur für Arbeit bundesweit zwei Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten tätig sind. Auch im Norden bedeutet das trotz schwankender Zahlen gerade in Hamburg, dass jede und jeder Zehnte im produzierenden Gewerbe mit Ernte oder Veredlung unser aller Lebensmittel zu tun hat.
Und so urban der Norden selbst im ländlichen Raum mittlerweile auch anmutet: Was Deutschland und die Welt auf dem Tisch haben, entsteht oft in dieser Zukunftsregion. Und klar ist zudem: Der Sektor wird auch mit hohen Transportkosten, Futtermittel- und Düngermangel und weiteren Folgen des Ukraine-Kriegs umzugehen wissen – Fantasie, Kreativität und Flexibilität sind auch in der Ernährungsbranche selbstverständlich.
Zahlen
Im Jahr 2020 erwirtschafteten die norddeutschen Bundesländer insgesamt 31,3 Prozent der Umsätze in der Ernährungsindustrie (inklusive Getränkeindustrie) in Deutschland. Das Schwergewicht der Branche im Norden ist Niedersachsen: Hier wurden 64,4 Prozent der norddeutschen und 20,1 Prozent der gesamtdeutschen Umsätze in der Branche erwirtschaftet, davon zwei Drittel im Fleischbereich.
In Hamburg wurden fast 10 Prozent der Öle und Fette in Deutschland verarbeitet. An der Spitze liegt die Hansestadt zudem bei der Exportquote im Bereich Nahrungs- und Futtermittel mit 36,2 Prozent, gefolgt von Niedersachsen (21,7 Prozent). Bremen erwirtschaftete 41 Prozent der bundesdeutschen Umsätze in der Fischverarbeitung – die zu 100 Prozent in den vier norddeutschen Bundesländern außer Hamburg erfolgt.