„Betriebliches Gesundheitsmanagement ist eine Haltung“

Wie lässt sich das körperliche und psychische Wohlbefinden im Unternehmen steigern – erst recht in herausfordernden Zeiten?
Anna-Lena Ehlers/ Ørsted
Beim Windenergiespezialisten Ørsted ist BGM Teil der Kultur – mit Yoga, Rückentraining und vielen anderen Maßnahmen.

Von Birgit Reuther, 7. Juni 2024 (HW 3/2024)

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Florian Läufer/ DAK
Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit

Auch 2024 bleibt der Krankenstand in Deutschland auf einem hohen Niveau. Laut einer Analyse der DAK-Gesundheit lagen die Fehlzeiten im ersten Quartal 2024 mit 5,8 Prozent nur knapp unter dem Vorjahresrekord von 5,9 Prozent. „Deshalb bleibt das Thema Gesundheitsschutz und Gesundheitsmanagement für die Arbeitgeber wichtig und zentral“, erklärt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit mit Sitz in Hamburg.

Doch beim Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) bestehen derzeit derzeit vier große Herausforderungen, so Petra Versemann, Handelskammer-Referentin für Gesundheit und Sport. Das erste Problem ist die Einbindung in das laufende Geschäft. Große Konzerne wie Beiersdorf haben Kapazitäten, um Positionen wie „Head of Wellbeing“ zu schaffen, die sich um das physische und psychische Wohlbefinden der Mitarbeitenden kümmern. „Kleineren Betrieben hingegen macht das tägliche Geschehen oft einen Strich durch die Rechnung“, erklärt Versemann.

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Bina Engel
Margit Werner, Leiterin von pme Familienservice NORD

Hinzu kommt: Wenn eine Firma aufgrund von Krisen, Inflation, Lieferketten- und Energieproblemen ums Überleben kämpft, steht das Thema Gesundheit nicht an erster Stelle. Doch „gerade im Zuge des Fachkräftemangels müssen wir alle Unternehmen beim BGM mitnehmen, damit die Mitarbeitenden lange und gut arbeiten können“, so die Expertin.

Die zweite Herausforderung besteht darin, alle Generationen einzubeziehen. „Die Jüngeren legen mehr Wert auf Freizeitausgleich, die Älteren denken verantwortlicher für alle mit“, sagt Versemann. Die Frage sei: Was können GenZ und Boomer voneinander lernen?

Das dritte Thema ist die Gesundheit von Frauen. Um gesundheitliche Angebote zu entwickeln, wurde in den vergangenen Jahrzehnten meist der Durchschnittsmann herangezogen. Doch Frauen haben körperlich andere Bedürfnisse.

Atemwegserkrankungen, gefolgt von Muskel-Skelett-Beschwerden und psychischen Belastungen sind laut DAK-Gesundheit die häufigsten Ursachen für hohe Krankenstände. Doch auch der Klimawandel spielt verstärkt eine Rolle. Die DAK berichtet, dass fast ein Fünftel aller Beschäftigten hitzebedingt Gesundheitsprobleme hat. Sie rät etwa dazu, Arbeitszeiten zu flexibilisieren, einen Sonnenschutz zu installieren und Getränke anzubieten. Immer wichtiger wird zudem die Anpassung an den demografischen Wandel: Die BKK empfiehlt unter anderem, bei der durch das Arbeitsschutzgesetz verpflichtenden Gefährdungsbeurteilung gezielt ältere Beschäftigte einzubeziehen.

„Da können wir im internationalen Vergleich viel lernen“, erläutert Versemann. Seit Juni 2023 erlaubt etwa Spanien Frauen mit ärztlich bestätigten Regelbeschwerden, von der Arbeit fernzubleiben („Menstruationstage“). Und britische Betriebe legen einen verstärkten Fokus auf Frauen in den Wechseljahren: Fast ein Viertel der dortigen Unternehmen unterstützt sie gezielt mit entsprechenden Maßnahmen.

Und schließlich gilt: BGM ist Führungssache. Die Chefetage muss selbst Vorbild sein, aber auch Geld und Ressourcen bereitstellen. Versemann ruft dazu auf, im BGM neben den gesetzlich vorgeschriebenen Bereichen Arbeitsschutz und Betriebliches Eingliederungsmanagement vor allem die Gesundheitsförderung engagiert voranzutreiben.

Das Energieunternehmen Ørsted, frisch gekürt mit dem „Hamburger Gesundheitspreis“, setzt auf einen Mix aus firmengesteuertem BGM und Eigeninitiative. Wenn die Beschäftigten wie jedes Jahr am MOPO Team-Staffellauf teilnehmen wollen, zahlt Ørsted Anmeldegebühr, Verpflegung und Team-Shirt.

Die 125 Hamburger Mitarbeitenden des global agierenden Windenergie-Spezialisten können zudem aus einem vielschichtigen Angebot wählen: Eine Fitnesstrainerin kommt für Yoga und Rückentraining ins Büro. Durch eine Kooperation mit dem Fitnessstudio Hansefit werden die Angestellten motiviert, auch extern regelmäßig Sport zu treiben. Eine „Wellbeing Week“ widmet sich unter anderem gesunder Ernährung. Und Formate wie ein Buddy-System beim Onboarding zahlen auf die soziale und psychische Stabilität ein.

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Motio GmbH
Frank Fiedler, Geschäftsführervon Motio

Senior Administration Specialist Lydia Ulferts koordiniert alle Maßnahmen – von der Grippeschutzimpfung über ergonomisches Arbeiten bis hin zum Fahrrad-Leasing. „Unsere Krankenquote ist relativ gering und die Rückmeldung der Mitarbeitenden sehr positiv, da sie die Flexibilität schätzen“, bilanziert Ulferts. „Dadurch, dass unser BGM so breit aufgestellt ist, können sich alle individuell etwas aussuchen.“

Doch wie kann man als kleineres Unternehmen ein BGM einführen? Frank Fiedler, Geschäftsführer der auf BGM spezialisierten Hamburger Beratungsfirma Motio, empfiehlt: klein anfangen, mal einen Kurs anbieten, Erfahrungen sammeln. Durch digitale Tools wie Apps und Videos lassen sich zudem Präventionseinheiten in den Alltag einbauen, auch im Homeoffice.

Für ein umfassendes BGM rechnet er mit Kosten von 150 bis 300 Euro pro Kopf im Jahr. „Kleinere Betriebe bekommen da erst mal Schnappatmung“, sagt Fiedler. Doch viele wüssten gar nicht, dass es Ko-Finanzierungsoptionen gibt. So lassen sich etwa steuerliche Vorteile gemäß § 3 des Einkommensteuergesetzes erwirken, oder eine Krankenkasse kann die Maßnahmen finanziell unterstützen. Fiedler plädiert für ein systemisches BGM. Das heißt: Die Gesundheitsförderung ist an die Personal- und Organisationsentwicklung gekoppelt und fester Bestandteil der Unternehmenskultur.

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Studioline.de
Lydia Ulferts, Senior Administration Specialist bei Ørsted

„BGM ist eine Haltung, das leben wir nach innen und nach außen“, erklärt Margit Werner, Standortleiterin des ebenfalls mit dem „Gesundheitspreis 2024“ ausgezeichneten pme Familienservice. In Hamburg und Norddeutschland arbeiten dessen rund 50 Beschäftigte mit mehr als 120 Firmen zusammen, um die Vereinbarkeit von Familie, Privatleben und Beruf zu fördern. Bewegungspausen oder die Teilnahme am Hafen-City-Run, kostenfreies Bio-Mittagessen und Obstschale, das sei selbstverständlich, so Werner.

Doch: „BGM darf nicht bloß aus Einzelmaßnahmen bestehen. Wir schauen, was jeder und jede in einer konkreten Lebensphase braucht.“ Mitarbeitende mit kleinen Kindern haben ganz andere Anforderungen als solche, die kurz vor der Rente stehen. „Wenn etwa ein Angehöriger gepflegt werden muss, richten wir eben Bildschirm und Bürostuhl zu Hause ein“, erklärt Werner.

Essenziell sei: Die Führungskräfte müssen für Information, Transparenz und Kommunikation sorgen. Ein großer Gesundheitsfaktor ist auch, so Werner, „den Mitarbeitenden Sicherheit im Unternehmen zu bieten und sie mit ihren Stärken zum Leuchten zu bringen“.

Gesund mit mehr Eigen­verantwortung

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Padoc
Dr. Dirk Lümkemann, Inhaber von padoc – health & productivity management

Damit BGM effektiv greifen kann, fordert Sportmediziner und Coach Dr. Dirk Lümkemann, der auch im Arbeitskreis für Sportförderung der Handelskammer mitarbeitet, einen Paradigmenwechsel: weg von der gefühlten Effektivität einzelner Maßnahmen hin zu einem evidenzbasierten BGM. Und weg vom „Healthwashing“, mit dem einzelne Betriebe sich möglicherweise einen fürsorglichen Anstrich verleihen, zugunsten der gezielten Förderung gesunden Verhaltens.

„Eigenverantwortung“ ist für ihn das Schlüsselwort.Das heißt: Individuelles Gesundheitscoaching soll die Beschäftigten befähigen, ihre Gewohnheiten zu verändern – also ihr Krankheitsrisiko zu verringern, ihre Fitness zu erhöhen und somit produktiver zu sein. Dabei stützt sich Lümkemann auf Studien, die ausreichende Bewegung, ausgewogene Ernährung, Nikotinverzicht, risikoarmen Alkoholkonsum und gute Stressbewältigung als Grundlage eines gesunden Lebensstils ermittelt haben.

„Die Auswirkungen eines modernen Gesundheitsmanagements gehen über die Arbeitswelt hinaus und verbessern die Lebensqualität der Mitarbeiter insgesamt“, so der Experte. Wichtig ist ihm, dass „ausschließlich wissenschaftlich begründete Maßnahmen zum Einsatz kommen“ und die Betriebe den Nachweis erbringen, dass ein Programm den Gesundheitszustand tatsächlich verbessert hat. Der positive Effekt eines solchen BGM besteht für ihn darin, dass die Beschäftigten „nicht mehr nur passiv auf Veränderungen der Arbeitsbedingungen warten, sondern aktiv an der Entwicklung ihrer Leistungsfähigkeit mitwirken“.


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