Eher gestrandet als gelandet

Von den englischen Tuchhändlern der Neuzeit über die „Gastarbeiter“ der 1960er bis zu den heutigen Flüchtlingen: Immigration hat Hamburg entscheidend geprägt.
Lokilech/Wikipedia/public domain
Links ist der damalige Alsterpavillon zu sehen, in dem der Franzose Augustin Lancelot de Quarte Barbes 1799 die wahrscheinlich erste Eisdiele Hamburgs eröffnete.

Von Jan Freitag, 2. August 2024 (HW 4/2024)

Migration und Handel – in einer Hafenstadt ist beides seit alters her verbunden. „Der Fremde“, schreibt der Philosoph und Soziologe Georg Simmel schon 1908, erscheine „allenthalben als Händler“ und umgekehrt. Grenzüberschreitender Menschen- und Güterverkehr seien unzertrennlich. Nicht nur, aber ganz besonders auch in Hamburg, wo beides wie Elbe, Michel und Kaufmannsstolz Teil der lokalen DNA ist.

Wann sich Fachkräfte, Handwerksgesellen etwa, erstmals an Alster und Elbe ansiedelten, ist schwer nachzuprüfen. Schon im Mittelalter begann die Hanse damit, Geschäfte schriftlich zu dokumentieren. Lückenlose Personenregister jedoch gibt es erst seit der Neuzeit. Und so sind als erste Arbeitseinwanderer englische Tuchhändler belegt, die sich 1567 in Hamburg niederließen und das niederdeutsche Sprachbild nachhaltig anglisierten.

Schmuckstraße_aus Ludwig Jürgens Sankt Pauli
Ludwig Jürgens ca. 1930/ St. Pauli-Archiv e.V.
Bis 1944 lag in St. Pauli Deutschlands erstes „Chinatown“ – hier ein Laden in derSchmuckstraße um 1930.

In der gleichen Zeit wie diese damals als „Merchant Adventurers“ bekannten englischen Fernkaufleute flohen zahlreiche gut situierte Protestanten aus den Niederlanden vor den Verwüstungen der Gegenreformation in Richtung Osten. Ohnehin ist die Neuzeit eine Ära religiöser Vertreibungen, die oft in Hamburg endeten. Ab 1580 zum Beispiel kamen portugiesische Juden. Doch während sich Hamburgs Kaufleute auf umgekehrter Route in Portugal „integrierten und wirtschaftlich oft sehr erfolgreich“ waren, wie die Historikerin Jorun Poettering schreibt, blieben ihre Kollegen aus Portugal benachteiligt und isoliert.

Es gab zwar Gewinner wie Jacob Curiel, der sich um 1627 in Hamburg niederließ und von dort aus Waffen an die spanische, später portugiesische Krone lieferte. Doch niederländische Händler waren nicht nur akzeptierter als portugiesische, sondern auch erfolgreicher als alteingesessene. Damals, so belegen Bankdaten, wurde nur ein Sechstel der städtischen Handelsumsätze durch Hamburger erwirtschaftet, was ungefähr ihrem Anteil an der Kaufmannschaft entsprach. Auf Niederländer entfiel fast die Hälfte.

Hamburg ist eben seit Hansezeiten ein globalisierter Schmelztiegel, der Menschen aus aller Welt anzieht. 1200 Hugenotten zum Beispiel, die 1572 infolge der Bartholomäusnacht aus Frankreich kamen und – wie das alte Reeder-Geschlecht Godeffroy – tiefe Spuren in Hamburg und Altona hinterließen. Überhaupt sind Fachkräfte samt Familien im Lauf der Einwanderungsgeschichte oft eher am Elbufer gestrandet als gelandet.

Nach der Französischen Revolution bat eine fünfstellige Zahl Geflüchteter um Schutz – den das frankophile Bürgertum trotz Wohnungsnot und Adelsklischees gern gewährte. Mit Folgen. Die Neuankömmlinge hatten ihr „Savoir-vivre“ im Gepäck. Sie eröffneten Geschäfte, Theater oder Cafés – darunter 1799 die wohl erste Eisdiele der Stadt – oder versammelten sich beim Schweizer Pierre François Fauche, der die Stadt etwa mit der Zeitschrift „Spectateur du Nord“ zum Zen­trum der Emigrationspublizistik machte.

Die Besetzung der Stadt durch napoleonische Truppen im Jahre 1806 hinterließ neben Verwüstungen und neuen Gesetzen auch kulturelle Spuren – vom eingedeutschten „Tschüss“ (entlehnt von „adieu“ und „adiós“) über das Franzbrötchen bis hin zu den neu eingeführten Hausnummern.  Ein städtesoziologischer Fußabdruck, den die Binnen- und Außenmigration im Zuge von Industrialisierung, Kriegen und US-Exil sonst allenfalls in St. Pauli hinterließ.

• In den 1950er- bis 1970er-Jahren gab es in Hamburg vor allem Arbeitsmigration; ab dem ersten Höhepunkt von 107 000 Asylanträgen im Jahr 1980 dann eher Fluchtmigration.

• Am 31. Dezember 2023 lebten 376  910 Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Hamburg. Die meisten kamen aus der Türkei (45  750), der Ukra­ine (34  625), Afghanistan (31  165) und Polen (21  985).

• Rund 40 Prozent der in Hamburg Wohnhaften (792  000 Menschen) haben einen Migrationshintergrund. Bei den unter 18-Jährigen sind es sogar 57 Prozent.

• Das Statistische Landesamt erfasst Zu- und Fortzüge nach Staatsangehörigkeit, differenziert aber nicht nach Beweggründen. „Wir wissen also nicht, ob Menschen für eine Arbeit, als Geflüchtete oder aus anderen Gründen eingewandert sind“, heißt es von dort. Auch die Ära der „Gastarbeit“ ab 1955 ist weitgehend unerforscht.

• In Hamburg sind seit 2018 auch Arabisch, Italienisch und Farsi als Fremdsprachenfächer im Abitur zugelassen.

Wo eine Gedenktafel und die „Hongkong-Bar“ an Deutschlands erstes Chinatown erinnern, waren Ende des 19. Jahrhunderts See- und Geschäftsleute aus Fernost sesshaft geworden, deren Tanzlokale, Gar­küchen und Waschsalons vor der Räumung durch die Gestapo 1944 weithin sichtbar waren. Erst ab Mitte der 1950er, als die Anwerbung ausländischer Arbeiter begann und das deutsch-italienische Anwerbeabkommen Konkurrenz für das legendäre, 1905 eröffnete Restaurant „Cuneo“ anlockte, schlug sich gewerblicher Zuzug wieder ähnlich im Stadtbild nieder.

Vor allem Gastronomie und Einzelhandel wurden diverser. Die „Gastarbeiter“ waren nicht nur in Industriebetrieben tätig – etwa in der Norddeutschen Affinierie (heute Aurubis) und auf der Großwerft HDW; manche eröffneten auch Restaurants und Gemüseläden. Und da sie wie ihre Vorgänger aus Portugal nicht nur abgelehnt, sondern auch abgesondert wurden, erschufen die Ankömmlinge aus Griechenland, Nordafrika, Korea und der Türkei ab 1961 Mikrokosmen mit eigener Sprache, Kultur und Nahversorgung. Der Steindamm, das Portugiesenviertel und halb Altona zeugen weiter vom geladenen, doch nie wirklich willkommen geheißenen Wirtschaftswunderpersonal.

Nach dem Anwerbestopp im Jahr 1973 änderte sich die Lage. Dominierten bis dahin „Pull-Faktoren“, also „staatlich erwünschte, regulierte Arbeit“, wie Migrationsforscher David Templin erklärt, wurden „Push-Faktoren“ wichtiger: Zahlreiche Menschen flüchteten vor den Diktaturen in Chile oder Griechenland, dem Krieg in Vietnam und der Revolution im Iran – und fassten häufig schnell Fuß. „Ende der 1970er“, sagt Bahram Habib, Handelskammer-Berater migrantischer Unternehmen, „gab es rund 330 Teppichgroßhändler in der Speicherstadt“ – auch eine Folge der Flucht vor Ayatollah Chomeini.

Aufgrund von Digitalisierung, Diversifizierung und Bürokratisierung gibt es heute nur ein Zehntel so viele Teppichhändler. Doch Geschäftserfolge zugewanderter Landsleute besitzen eine „Sogwirkung und Vorbildfunktion“ für Daheimgebliebene. Und das ist gerade jetzt bedeutsam, wenn Hamburg weltweit um Fachkräfte wirbt. Nach den Ausländerbeauftragten von 1980 wurden dafür neue Institutionen kreiert, zuletzt das Hamburg Welcome Center oder ein „Amt für Integration“. Damit Fremde zwar in Hamburg handeln, aber nicht fremd bleiben, sondern vertraut werden.


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