Frau Engelhardt, die Reformhäuser sind Mitte des 19. Jahrhunderts aus der industrialisierungskritischen, naturnahen Lebensreformbewegung entstanden. Wie viel dieser Ursprungsideale sind heutzutage noch davon übrig?
Cathrin Engelhardt: Also, wenn man alle Strömungen der Lebensreformbewegung betrachtet, nicht mehr alles. Vor 135 Jahren gab es noch Strömungen wie Nacktgärtnern. Von unseren Produzenten zieht sich meiner Kenntnis nach keiner mehr bei der Arbeit aus (lacht), aber das Naturbelassene, so natürlich wie möglich, blieb als Grundsatz erhalten. Es war der Gegensatz zur zunehmenden Industrialisierung der Nahrung.
Bei der es anfangs noch gar keine Unterscheidung in nachhaltig oder konventionell gab …
Genau. Deshalb musste sich das Reformhaus als Gattung immer wieder fortentwickeln. Während es früher mal fast eine Art Naturapotheke war, ging es zwischendurch eher in Richtung Feinkostsupermarkt mit damals noch seltenen Olivenölen, aber auch frischem Obst und Gemüse. Dieser Trend hat sich allerdings schon deshalb zurückgebildet, weil unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen viel zu gut ausgebildet sind, um nur Rosenkohl zu verkaufen.
Was genau qualifiziert sie höher?
Bei uns benötigen sie Kenntnisse über Naturarzneien und -kosmetika, Nahrungsergänzungsmittel oder traditionelle Medizin, auch in Hinblick auf Unverträglichkeiten und Heilungsprozesse, um unserer Kundschaft die bestmögliche Beratung zukommen zu lassen. Unser Personal war schon immer ein bisschen mehr Ernährungs-Doc als reine Einzelhandelsfachkraft.
Bilden Reformhäuser damit eine eigene Gattung zwischen Bioladen und Drogerie?
Und zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde. Als Fachgeschäft für gesunde Ernährung werden wir zwar seit Jahrzehnten gefragt, wann uns die Bio-Welle fortreißt, aber so groß sind die Überschneidungen da gar nicht. Unsere Stärken liegen weniger in der Sortimentbreite als in kompetenter Beratung. Das gewährleistet außer uns nur noch die Apotheke.
Spüren Reformhäuser die Konkurrenz klassischer Bioläden, deren Umsatz lange Jahre stetig wuchs?
Früher kaum, weil Reformhäuser dank ihrer sehr treuen Stammkundschaft auch sehr kontinuierlich Umsatz gemacht haben. BSE oder Dioxin haben die Peaks gelegentlich nach oben getrieben, Corona oder jetzt Krieg und Inflation auch mal nach unten. In den vergangenen zwei Jahren gingen die Umsätze bei uns deshalb leicht abwärts. Aber seit Anfang 2023 auch schon wieder aufwärts. Wobei kleinere Läden in den Wohnvierteln die Rückgänge der Center-Filialen ausgleichen. Es hält sich ungefähr die Waage.
Wir sind das Anti-E-Commerce-Modell.
Hat die Tendenz zum Homeoffice den Straßenfilialen dahingehend geholfen, dass die Menschen wieder im selben Viertel arbeiten, wohnen, einkaufen?
Das kann ich schon deshalb nicht sagen, weil die meisten ihre stationären Alltagseinkäufe ohnehin vor oder nach Feierabend machen. Unsere Filiale am Gerhart-Hauptmann-Platz allerdings hat spürbar darunter gelitten, dass mehr Leute zu Hause arbeiten. Die im Hanseviertel mussten wir auch deshalb sogar schließen. In den Wohn- und Einkaufsquartieren dagegen fangen wir durchaus viele – besonders Ältere – auf, die sich vom Einkauf mehr wünschen als Bedarfsbefriedung.
Ein dörfliches Gemeinschaftsgefühl zum Beispiel?
Ja, dass man die Namen der Kundinnen kennt, beim Betreten nach dem Befinden gefragt wird und nach dem Verlassen noch zum Gemüsehöker nebenan gehen kann. Lebendige Quartiere können durchaus etwas gegen die Vereinzelung der Menschen industrialisierter Nationen bewirken – das habe ich gerade wieder beim Urlaub in Namibia erlebt. Und genau dafür bilden wir auch hierzulande Communitys Gleichgesinnter.
Und Sie organisieren gewissermaßen Treffpunkte zum Austausch?
Ja, aber nicht in dem Maße, wie es möglich wäre. Quartiere könnten immer noch mehr dafür tun, Nachbarschaftsräume zu werden. Was wir bieten, ist hierfür das rare Gut Zeit. Während die beim Arzt oder im Supermarkt knapper wird, kann es sich der kleinere Einzelhandel noch mal leisten, länger zuzuhören und Ratschläge zu geben.
Und was tun Sie darüber hinaus für die Kundenbindung?
Es gibt Kundenkarten der Vita Nova, eine Einkaufsgemeinschaft, in der wir mit 170 Geschäften von 15 Inhabern und Inhaberinnen organisiert sind. Im ländlichen Raum haben 40 bis 60 Prozent der Kundschaft solche Karten. Dazu gibt es monatliche Mailing-Aktionen mit Geschenkcoupons, die die Leute in unsere Läden bringen, oder 14-tägliche Newsletter. Außerdem sind wir im Internet mit Online-Shop und bei Facebook oder Instagram aktiv.
Cathrin Engelhardt, geboren 1967 in Hamburg, absolvierte nach ihrem Abitur in Lohbrügge eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau Diät und Reformwaren im ersten Haus der Kette in Bergedorf und heiratete Firmeninhaber Norbert Engelhardt. Bald übernahm sie die Personalleitung und nach dem Tod ihres Mannes 2001 auch die Firma. Mittlerweile leitet ihr ältester Sohn Franz (30) den Einkauf und ist ebenso Geschäftsführer wie Agnes Wiebicke. Cathrin Engelhardts zweiter Mann Sven Bürgel leitet die Media-Abteilung.
Bei TikTok nicht?
(lacht) Nein, unsere Kernkundschaft wellnessorientierter Frauen über 45 tickt da etwas anders und belegt, dass Reformhäuser wieder Teil einer Gegenbewegung sind, ein bisschen das Anti-E-Commerce-Modell zum aktuellen Trend des Online-Handels. So was kann Sogwirkung haben. Wenn Quartiere über ein Reformhaus verfügen, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es auch noch einen Fisch- oder Zeitungsladen gibt, dass da noch echtes Leben stattfindet, anstatt nur Zeit zu Hause an den Rändern der Arbeit.
Gibt es ideale Standorte für solche Einzelhandelsquartiere mit Reformhaus?
Schwer zu sagen, aber hohe Kaufkraft ist gewiss förderlich – und ein alternatives, nachhaltiges, kreatives Publikum wie in Ottensen, Eppendorf, der Schanze. Darüber hinaus braucht es aber auch gute Frequenz mit großer Laufkundschaft, also verglichen mit dem ländlichen Raum etwas höhere Bevölkerungsdichte, ohne überfüllt zu sein. Das ist für jedes Viertel von Vorteil. Aber all dies steht und fällt grundsätzlich mit dem Personal.
Weil das schwer zu finden ist?
Zumindest solches mit hoher Fachkompetenz und Leidenschaft für die Sache. Erfahrung ist ungeheuer wichtig für jeden Standort. Unser Filialleiter in Husum zum Beispiel ist nicht nur seit Jahrzehnten mit vollem Herz bei der Sache, sondern in der ganzen Stadt bekannt wie ein bunter Hund. Das gilt aber auch für unsere Filialleiterinnen in Volksdorf oder Blankenese – ach, eigentlich überall.
Wie finden Sie denn gutes, qualifiziertes, leidenschaftliches Personal?
Auch das ist schwieriger geworden, aber nicht unmöglich. Ich habe selbst im Reformhaus gelernt. Wir hatten teilweise 20 geeignete Azubis, das finden Sie heute kaum noch, obwohl wir sie sofort einstellen würden. Deshalb nehmen wir gern Wieder- und Quereinsteigerinnen, zum Beispiel Heilpraktikerinnen, die nicht nur Geld verdienen, sondern anderen helfen wollen, das macht nämlich großen Spaß.
Haben Sie auch mit steigenden Mieten zu kämpfen?
Weil Geschäfte wie unsere die Immobilie in aller Regel seriöser machen als Ein-Euro-Shops, also aufwerten, konnten wir zwar gerade in Straßengeschäften gut mit den Vermietern verhandeln, aber klar – Mieten sind genauso wie Energiepreise und Inflation wachsende Kostenfaktoren, die uns das Leben schwer machen. Das gilt bei den Indexmieten vieler Einkaufscenter umso mehr.
Aus denen sich Engelhardt zwar zurückzieht, zugleich aber Straßengeschäfte eröffnet …
Wir ziehen uns nicht generell aus Einkaufszentren zurück, aber die Konditionen müssen stimmen.
Verglichen mit der besten Zeit ist die Zahl der Reformhäuser generell stark zurückgegangen. Dennoch expandieren Sie. Wie kam es dazu?
Zunächst durch Übernahmen bestehender Einzelgeschäfte, die nach jahrzehntelanger Inhaberführung oftmals schlicht keine Nachfolger finden, aber qualifiziertes Personal haben. In der Fuhlsbüttler Straße, Husum und Rendsburg dagegen haben wir sogar völlig neu eröffnet, aber das ist in der Regel schwierig.
Sprechen solche Neueröffnungen für eine gewisse Risikobereitschaft?
Früher ja, wenngleich mir das Risiko einer Neueröffnung damals womöglich weniger bewusst war. Jetzt muss sich meine Risikobereitschaft mit dem Verantwortungsgefühl für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen arrangieren. Wenn ich Geld verliere, kann ich ihnen noch schwerer das bezahlen, was Fachkräfte im Einzelhandel für ihre Arbeit buchstäblich verdienen.
Die 1987 als Einzelhandelsgeschäft in Bergedorf gegründete Reformhaus Engelhardt GmbH & Co. KG beschäftigt derzeit knapp 200 Mitarbeitende in 36 Filialen, die Hälfte davon in Hamburg, und 20 in der Eppendorfer Firmenzentrale. Diese haben mit 20 Millionen Euro 2022 zwar etwas weniger erwirtschaftet als zuvor. Im ersten Quartal 2023 konnte sich der Erlös jedoch erholen.
Reformhäuser sind also keine Goldgruben?
Einzeln definitiv nicht, das ist selbst in guter Lage oft Selbstausbeutung. Erst Synergieeffekte vieler Geschäfte oder der gemeinsame Einkauf einer Verbundgruppe machen es lukrativ.
Läuft es also auf weitergehende Konzentration hin zu Unternehmen wie Ihrem mit aktuell fast 40 Filialen hinaus?
Ja, aber das gilt nicht nur für unsere Branche, sondern auch für Parfümerien, Drogerien, selbst Bioläden. Wir haben daher teils Einzelgeschäfte übernommen, wo die Inhaber dann als Filialleiter angestellt wurden, also weiter an gleicher Stelle arbeiten – mit weniger Verantwortung, dafür mehr Urlaub.
Und wie war die Resonanz?
Na ja (lacht), vier Wochen Anpassungsprobleme inklusive kleiner Zusammenbruch sind nicht selten … Aber am Ende lohnt es sich für beide Seiten, und alle sind zufrieden.
Können Sie gut loslassen, sind Sie gut im Delegieren?
Wir müssen Reformhäuser nicht neu erfinden, um damit erfolgreich zu sein.
Sonst hätte ich kaum fünf Wochen Urlaub genommen, und das parallel zu meinem Sohn, der mit einer Kollegin den Einkauf leitet. Um loslassen zu können, brauche ich aber Vertrauen in meine teils langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das habe ich – obwohl man mich natürlich immer per Mail erreichen kann. Ich bin eher die Feuerwehr als das Ordnungsamt, um Man- und Womanpower am Laufen zu halten.
Welchen Einfluss hatte es auf diese Art Unternehmensführung, dass Ihr erster Mann, der die Firma gegründet hat, vor gut 20 Jahren gestorben ist?
Ich entstamme ja einer Familie Selbstständiger. Mein Urgroßvater hat Zigarren verkauft, mein Großvater Lampen, mein Vater Fernseher, ich habe schon als Kind bestickte Lavendelkissen auf Flohmärkten verkauft. Nachdem ich im Unternehmen meines Mannes auch für alles Verantwortung hatte, war die Geschäftsführung nach seinem Tod also nichts Ungewohntes für mich.
Hat es Sie dennoch härter gemacht, plötzlich vom Schicksal ins kalte Wasser gestoßen zu werden?
Die Mitarbeitenden und die Branche haben mich aufgefangen, aber sich allein mit der Trauer und den Kindern einfach in die Arbeit zu stürzen, hat mich vermutlich härter gemacht, ja.
Hart genug, um den aktuellen Herausforderungen des stationären Einzelhandels, vor allem durch E-Commerce, entgegenzutreten?
Zumindest optimistisch genug, fest daran zu glauben, dass wir uns an neue Begebenheiten weiter anpassen. Vielleicht muss man dafür den einen oder anderen Standort aufgeben, verlegen, verkleinern oder das Sortiment – auch online – erweitern, aber ohne unseren Markenkern persönlicher Beratung für natürliche Produkte zu leugnen. Wir müssen Reformhäuser nicht neu erfinden, um damit erfolgreich zu sein.
Ist das ein Appell an den Einzelhandel, vom Reformhaus zu lernen?
Ich denke schon. Was er definitiv von uns lernen könnte: mit Leib und Seele, also Nahrung und Gesundheit bewusster umzugehen; das sollte man aus meiner Sicht schon in der Schule lernen. Wenn Kinder nur mit Pizza aufwachsen und ihnen niemand erklärt, was das bewirkt – wie soll daraus nachhaltiger Konsum werden?