„Logistik verdient mehr Wertschätzung“

Mobilitätswende im Wirtschaftsverkehr: Kerstin Wendt-Heinrich, Geschäftsführerin von TOP Mehrwert-Logistik, sprach mit der HW über eine autoarme Innenstadt, Virtual-Reality-Brillen, den Fahrzeugmix in der Logistik und ihr Engagement in der Handelskammer.
Kerstin Wendt-Heinrich ist in dritter Generation Geschäftsführerin der Unternehmensgruppe TOP Mehrwert-Logistik und gründete weitere Firmen wie TOP IT Solution. 

Interview: Kerstin Kloss, Fotos: Angela Pfeiffer, 7. Juni 2023 (HW 3/2023)

Bis 2030, so die Planung der Behörde für Verkehr und Mobilitätswende (BVM), sollen in Hamburg 80 Prozent aller Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) im Umweltverbund zurückgelegt werden. Was halten Sie als Logistikerin davon?

Kerstin Wendt-Heinrich: Ich bin beeindruckt, was Senator Anjes Tjarks plant und schon umgesetzt hat. Aber das ist sehr auf den Personenverkehr beschränkt. Wichtig ist, dass wir auch von Gütermobilität sprechen. Wirtschaftsverkehr gehört auf Augenhöhe mit Personenverkehr, das Zusammenspiel muss weiterhin gleichberechtigt bespielt und verstetigt werden. Die Logistik benötigt und verdient mehr Wertschätzung in der Gesellschaft, denn sie ist unverzichtbar für alle Branchen und damit für jeden einzelnen.

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Die Diplom-Kauffrau Kerstin Wendt-Heinrich ist unter anderem Vorsitzende des Handelskammer-Ausschusses für Logistik, Hafen und Schifffahrt.

Was ist bei den Plänen für eine autoarme Innenstadt und autoarme Quartiere für Sie denn wichtig?

Die Erreichbarkeit muss für alle Verkehrsteilnehmer sichergestellt sein, aber die Ver- und Entsorgung wird in den Konzepten der Stadtplaner erst spät oder sogar teilweise gar nicht mit berücksichtigt. Das sehe ich als Schwierigkeit an, weil es nicht nur um Kurier-, Express- und Paketdienstleistungen (KEP) auf der „letzten Meile“ geht, sondern auch um den Wirtschaftsverkehr im Ganzen, beispielsweise zur Versorgung der Gastronomie.

Was schlagen Sie vor?

Wir benötigen Flächen für multifunktionale Hubs, abgestimmte Ladezeiten und Kooperationen im Innenstadtbereich. Wir sollten ein Gesamtkonzept planen und nicht nur neue Leuchttürme schaffen. Digitalisierung macht es möglich. Unterirdische, Luft- und Wasserwege sollten zusätzlich in den Blick genommen werden. Auch sind intelligentere Lösungen im Bereich der Lade- und Lieferzonen gefragt, so wie SmaLa, ein tolles Projekt …

… das die BWI 2019 gestartet hat. Mit dem virtuellen Buchungssystem „Smarte Liefer- und Ladezonen“ (SmaLa) können Logistikdienstleister werktags zwischen 8 und 19 Uhr eine Lieferzone reservieren.

Bis Ende des Jahres sollen 25 SmaLas errichtet werden, die ja nicht von privaten Nutzern belegt werden dürfen. Somit ist kein Parken der Lieferfahrzeuge in der zweiten Reihe notwendig.

Wie bereitet sich Ihr Unternehmen denn auf die Mobilitätswende vor?

Wir waren mit vielen Innovationen, Firmengründungen und Kooperationen sogar zu früh dran. Nachdem wir 1987 als Pionier den ersten Nachtexpress überhaupt gegründet hatten, haben wir schon 1993 mit der Stückgut-Kooperation Bahn-Trans den ersten Hybrid-Lkw für nachhaltige innerstädtische Belieferung getestet. Die in Parkhäusern bereitgestellten Ladepritschen sollten dann die Ware elektrisch gezogen in der City verteilen. Fast parallel zu unserer heutigen TOP Mehrwert-Logistik gründeten wir 1998 DISI, eine geförderte City-Logistik, die die Ware für die Hamburger Innenstadt konsolidiert verteilen sollte. Heute erforschen wir unter anderem den multimodalen Einsatz zur nachhaltigen Belieferung.

Zur Person

Kerstin Wendt-Heinrich ist in dritter Generation Geschäftsführerin der Unternehmensgruppe TOP Mehrwert-Logistik und gründete weitere Unternehmen wie TOP IT Solution. Die 57-jährige Diplom-Kauffrau engagiert sich bei unterschiedlichen Verbänden vor allem in Hamburg. Seit 2020 ist sie Vorsitzende des Handelskammer-Ausschusses für Logistik, Hafen und Schifffahrt.

Warum kamen Ihre Ideen zu früh?

Eine Schwierigkeit war, dass der Hersteller MAN den Hybrid-Lkw nicht in Serie gebracht hat. Bei der Citylogistik hielt die Stadt Zusagen für eine größere Halle nicht ein; und das Softwareunternehmen hörte mitten in der Projektierung plötzlich auf, weil es keine Forschungsmittel mehr gab. Das ist heute deutlich besser geworden, und ich finde eine genaue Kontrolle der Förderprojekte auch sehr wichtig.

Trotz Rückschlägen haben Sie weitergemacht …

Wir haben seit vielen Jahren eine Forschungsabteilung hier im Haus, die sich auch immer schon mit Nachhaltigkeit beschäftigt hat. Digitalisierung liegt in unserer DNA, und ich glaube, dass die Mobilitätswende ohne Digitalisierung unmöglich ist.

Womit beschäftigt sich Ihre Forschungsabteilung aktuell?

Als technischer Kurierdienst haben wir vor fünf Jahren im Bereich 3D-Druck geforscht, um die Ersatzteile unserer Kunden vor Ort fertigen zu können und somit den Transport zu reduzieren. Heute untersuchen wir intensiv, wie Virtual-Reality-Brillen die Fähigkeiten unserer technischen Servicekuriere erhöhen können. Damit können wir die Rendezvous-Fahrten unserer Kuriere mit den Technikern unserer Kunden verringern. Ebenso überprüfen wir, ob wir unser Netzwerk von deutschlandweit derzeit 28 Hochverfügbarkeitslokationen künftig engmaschiger aufstellen, um weniger Kilometer zu fahren.

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Die Familienunternehmensgruppe, die Kerstin Wendt-Heinrich leitet, wurde 1930 gegründet und zählt heute zu den führenden Anbietern von Hochverfügbarkeitslogistik und technischem Service.

Welche Rolle spielt dabei Hamburg für Sie?

Ich bin geborene Hamburgerin und liebe Hamburg, deshalb setze ich mich mit meinen Ehrenämtern von Herzen für den Standort und die Logistik hier ein.

Das machen Sie zum Beispiel als Vorsitzende des Handelskammer-Ausschusses für Logistik, Hafen und Schifffahrt. Um welche Themen geht es da?

Ich habe den Ausschuss „Schifffahrt, Hafen und Logistik“ 2020 unter der Bedingung übernommen, „Logistik“ voranzustellen, denn letztendlich umklammert Logistik alles. Ebenso habe ich den Arbeitskreis für Mobilität initiiert. Gleich zu Beginn haben wir mit Senator Tjarks seine Pläne zur Mobilitätswende diskutiert. Die Themen sind komplex – angefangen bei der Baustellenkoordination, der Klimaneutralität des Flughafens, Optimierung im Hafen- und Zollbereich, Beschleunigung von Genehmigungsverfahren über diverse Innenstadt-Projekte wie das „Bewohnerparken“ bis zu den wichtigen Standortbedingungen. Insbesondere beschäftigt es uns, die see- und landseitige Erreichbarkeit des Hamburger Hafens und Hamburgs überregionale Verkehrsanbindung zu verbessern.

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Gern nutzt die Geschäftsfrau auch das Fahrrad.

Was wurde erreicht?

Zunächst einmal stärkt die Handelskammer die Vernetzung mit wegweisenden Veranstaltungen wie dem internationalen Hafensymposium oder dem Mobility Festival HEY/HAMBURG, das diesen Monat im dritten Jahr stattfindet. Wir haben unter anderem Bewegung in die Problematik des Bewohnerparkens gebracht und ein Positionspapier zum „Zukunftsplan Hafen“ eingebracht, quasi als vorgezogene Stellungnahme zum neuen Hafenentwicklungsplan. Außerdem beteiligt sich die Kammer an der A20-Kampagne und ist aktiv im politischen Lobbying für die A26-Ost als Verbindung zwischen A1 und A7 und weitere Infrastrukturgroßprojekte.

Wo gibt es aus Sicht der Wirtschaft den größten Aufholbedarf bei der überregionalen Verkehrsanbindung?

Die Magistralen in und aus der Stadt sind lebensnotwendig für den Wirtschaftsverkehr in Hamburg. Elbquerungen sind norddeutsche Nadelöhre – es braucht leistungsfähige Bypässe, etwa in Form der A20 oder A21, also im Prinzip einen Ring von Autobahnen. Der Schienenverkehr benötigt ebenfalls weitere Querungsmöglichkeiten der Elbe. Der Hafen ist das größte Industriegebiet Deutschlands und hat nationale Relevanz – daher muss die Erreichbarkeit jederzeit sichergestellt und die Sanierung maroder Infrastruktur vorangetrieben werden. Dafür braucht Hamburg auch Gelder vom Bund, um marode Autobahn- und Bahnbrücken, Schleusen und Kaikanten zu sanieren. Die Hamburger Politik darf nicht nachlassen, die Umsetzung der A26-Ost und den Ersatz der Köhlbrandbrücke voranzutreiben.

Inwieweit haben Sie sich dafür auf dem Gemeinschaftsstand Gateway Hamburg mit über 50 Unternehmen auf der „transport logistic“ – der Leitmesse für Logistik, Mobilität, IT und Supply Chain Management – im Mai in München persönlich stark gemacht?

Als Vorsitzende der Logistik-Initiative Hamburg konnte ich Bundesverkehrsminister Volker Wissing bei seinem kurzen Standbesuch deutlich mitgeben, dass wir finanzieller Unterstützung und vor allen Dingen auch der Umsetzung bedürfen. Er hat es lächelnd aufgenommen. Viel wichtiger war für mich, dass ich mit Hamburgs Senatorin für Wirtschaft und Innovation, Dr. Melanie Leonhard, einen ganzen Tag lang unterschiedliche Unternehmen auch am Gateway-Hamburg-Stand besucht habe. Ich bin zuversichtlich, dass sie die Notwendigkeiten für die Logistik im Blick hat.

Wir sollten ein Gesamtkonzept planen und nicht nur neue Leuchttürme schaffen.

 

Was bedeutet die Mobilitätswende für ein mittelständisches Familienunternehmen?

Für den Mittelstand ist ein enger Austausch mit anderen Unternehmen und Verbänden am Standort Hamburg essenziell wichtig – das Zauberwort heißt Kooperation, und genau das macht ja meine Ehrenämter aus. Eine Umstellung auf alternative Antriebe ist klares Ziel auch im Mittelstand, aber hier sind wir von der Rentabilität der technischen Entwicklung ebenso abhängig wie von der Investitionssicherheit bezogen auf die Energie-Ladeinfrastruktur, egal ob Wasserstoff oder Strom. Wir warten übrigens seit Monaten auf den Anschluss von drei öffentlich zugänglichen Ladesäulen auf unserem Firmengelände. Jetzt bekommen wir einen Überbrückungsanschluss, das bedeutet eine längere Ladezeit. Die Ladeinfrastruktur muss in ganz Deutschland aufgebaut werden. Aber kein Unternehmen kann es sich erlauben, einen noch nicht amortisierten Fuhrpark auf einmal umzustellen.

Wie sieht Ihre Flotte aus?

Vom Fahrrad bis zum Lkw. Ich bin der Überzeugung, dass man sich mit einem Mix aus unterschiedlichen Antrieben aufstellen sollte. Schon um die Resilienz zu erhöhen. Die nächsten Techniker-Fahrzeuge werden in jedem Fall zum Großteil Elektroantrieb haben, auch wenn die Reichweite kurz ist. Wasserstoff leider noch nicht, obwohl die Langstrecken damit deutlich besser abgedeckt werden können. Hier fehlen die Angebote. Es kann sein, dass wir wichtige Ersatzteile oder eine Insulinpumpe sofort 800 Kilometer von Hamburg nach München bringen müssen – dann brauchen wir ein Fahrzeug, das diese Strecke zurücklegen kann. Deshalb benötigen wir als Logistiker in jedem Fall einen Mix aus Elektro-, Wasserstoff- und momentan leider noch Dieselantrieb.

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Kerstin Wendt-Heinrich (re.) im Gespräch mit Kerstin Kloss

Haben Sie auch „abgefahrene“ Ideen?

Aktuell beteiligen wir uns hier in Hamburg an dem europäischen Forschungsprojekt InnoWater und übernehmen in unserem Hub in Hammerbrook Ware, die sonst mit großen Lkw in die HafenCity gebracht werden müsste. Stattdessen wird sie auf ein batteriebetriebenes Boot verladen, über die Kanäle zur HafenCity verbracht und dort mit Lastenrädern verteilt werden. Künftig werden wir – wenn die Rahmenverträge es zulassen – unsere Notfallfahrten mit der Bahn ergänzen. Einen Drohneneinsatz sollten wir ebenfalls im Auge behalten, dann können wir vielleicht auch Berge termingerecht beschicken.

TOP Mehrwert-Logistik

Die 1930 gegründete Hamburger Familienunternehmensgruppe zählt mit 200 Mitarbeitenden, 600 technischen Kurieren und 200 Servicetechnikern zu den führenden Anbietern von Hochverfügbarkeitslogistik und technischem Service. Seit 1997 ermöglicht ein Notfall-Lagerkonzept Ersatzteillieferungen innerhalb von 90 Minuten in ganz Deutschland.

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