Herr Dr. Huwer, Sport in seinen zahlreichen Facetten gilt als wichtiger Faktor, um die Attraktivität einer Stadt zu beurteilen. Welches Zeugnis geben Sie Hamburg?
Dr. Eric Huwer: Ich glaube, Hamburg wird als Sportstadt vor allem mit Events wahrgenommen, die singulär eine besondere Aufmerksamkeit genießen – zum Beispiel die Cyclassics, der Triathlon, Tennis am Rothenbaum und vor allem natürlich unsere Fußballspiele im Volksparkstadion. In Sachen Breitensport und Sportstättenbau könnten wir dagegen einiges besser machen. Und als sportbegeisterter Mensch bedauere ich noch heute, dass wir es nicht geschafft haben, Olympia 2024 nach Hamburg zu bringen. Ich wünsche mir, dass es irgendwann gelingt, mehrheitsfähige Olympische Spiele in die Stadt zu holen, die sozialverträglich und nachhaltig sind. Wenn Sie mich also nach einem sportlichen Zeugnis für Hamburg fragen, sage ich: 3+.
Hamburg ist die einzige europäische Großstadt ohne Fußball-Erstligaklub. Welche Rolle spielt der HSV, der nun seit fünf Jahren in der zweiten Liga spielt, für die Stadt?
Nach meiner Wahrnehmung sind die Liga oder die Platzierung für unsere Fans nicht die alleinigen Kriterien ihres Bekenntnisses zum Verein. Wir sind natürlich nicht zufrieden mit dem Ausgang der abgelaufenen Spielzeit, und dennoch haben wir offensichtlich ein paar Dinge richtig gemacht. Für die aktuelle Saison ist keine Loge mehr frei. Der Kartenvorverkauf war so gut wie seit 15 Jahren nicht mehr. Im Merchandising haben wir ein Rekordergebnis erzielt, und wir werden in dieser Saison die Marke von 100 000 Mitgliedern knacken. Wir haben zudem neue Partner gewonnen und bekommen sehr positives Feedback.
Was bringt ein Profiklub wie der HSV wirtschaftlich und gesellschaftlich der Stadt Hamburg? Kann man das bemessen?
Wirtschaftlich ist es simpel: Es gibt fast eine Million Menschen, die in einer Saison zu unseren Spielen kommen; da sind die zahlreichen Konzerte, die im Volksparkstadion stattfinden, noch nicht mitgerechnet. Es gibt unzählige Studien zum regionalwirtschaftlichen Wert des Fußballs, beispielweise für Übernachtungen, Hotel, Gastronomie und den Kulturbetrieb. Denn die Menschen, die ins Volksparkstadion kommen, wollen davor und danach auch die anderen Highlights der Stadt erleben. Werbewert, regionale Wertschöpfung, Arbeitsplätze und Steuerzahlungen sind ökonomisch messbare Mehrwerte für die Stadt Hamburg.
Die gesellschaftliche Relevanz entsteht aus unserem nachhaltigen Beitrag zum Gemeinwohl. Unsere gelebte Vereinsidentität, das Gefühl der Verbundenheit und die Identifizierung mit Hamburg, unsere Nachwuchsförderung und die Wahrnehmung unserer sozialen und ökologischen Verantwortung, wie durch die HSV-Stiftung „Der Hamburger Weg“, sind Ausdruck dieser gesellschaftlichen Ambition. Als Wirtschaftsfaktor und sogenannter Public Value ist ein Bundesligist oder ein ambitionierter Zweitligist wie der HSV eine wesentliche Größe.
Wird dem in der Hamburger Politik Rechnung getragen?
Im Rathaus gibt es ein großes Verständnis dafür, dass wir eine wichtige Rolle spielen. Auch mit dem Hamburg Marketing sind wir in regem Austausch; hier freut man sich über die vielen Menschen, die wir über Fußballspiele oder Konzerte in die Stadt bringen und für Hamburg begeistern. Genauso wichtig wie die wirtschaftliche ist für mich aber die gesellschaftliche und kulturelle Komponente. Ich bin Fußballfan von klein auf. Was ich immer geliebt habe, und das ist heutzutage mehr denn je der Fall: Im Stadion kommen alle Menschen zusammen, egal, welcher Couleur, mit welchem religiösen Hintergrund, welchem Status, egal ob jung oder alt – das Stadion ist der größte gemeinsame Nenner einer Gesellschaft.
Zur Person
DR. Eric Huwer (40) kam 2014 als Controller zum HSV. Seit Januar 2023 ist er Vorstand der HSV Fußball AG. Er leitet die Bereiche Finanzen, Organisation, Personal und Recht. Bevor der promovierte Diplom-Kaufmann und Betriebswirt nach Hamburg kam, war er Referent des Vorstandes Marktmanagement bei der Allianz AG in München. Huwer referierte an zahlreichen Universitäten zu Fragen des Finanz- und Sportmanagements. Seit Kurzem ist er auch Mitglied der zwölfköpfigen DFL-Kommission Finanzen.
Wie lässt sich die daraus entstehende Verantwortung im Alltag umsetzen?
Indem wir uns klarmachen, dass wir nicht nur eine Fußballunternehmung sind, sondern auch eine soziale Einrichtung. Wir dürfen nicht nur nach Management-technischen Größen wie sportlichem Erfolg und Gewinnoptimierung streben, sondern haben auch den Auftrag, junge Menschen für den Sport zu begeistern und zu gesellschaftlichen Themen eine Haltung zu zeigen.
An welchen Beispielen kann man das festmachen?
Gesellschaftliche Veränderungen spürt man maximal und unmittelbar in einem Stadion. Wir haben ein sensibles Auge auf diese Trends. Wir haben null Toleranz gegen Gewalt, rechtsextreme Äußerungen und Diskriminierung. Wir haben direkt im Bereich der Nordtribüne einen sogenannten Ankerplatz eingeführt, an den sich Menschen, die unfreiwillig in eine prekäre Situation geraten, wenden können und wo wir sofort reagieren und handeln. Wir bekennen uns zu gesellschaftlichen Ebenen wie zum Thema Diversität in aller Lautstärke und Klarheit. Wir wünschen uns Vielfältigkeit unseres Publikums. Das alles sind für uns Haltungsthemen.
Sie sind viel gereist. Haben Sie da Vorbildliches gesehen, von dem Sie sagen: Das sollte Hamburg auch umsetzen?
Ich habe vor geraumer Zeit auch mal in Valencia gelebt, und da war ich begeistert von den Padel-Tennis-Plätzen, die jetzt auch mehr und mehr nach Deutschland kommen. Grundsätzlich liebe ich informelle und für alle zugängliche Mini-Sportflächen in Innenstädten, die kleinen Fußballfelder in Madrid oder Barcelona, die Basketball-Käfige in New York. Dort leben Jugendliche, und wir reden ja immer so gern von Straßenfußballern, tagtäglich ihren Sport. Gern mehr davon auch in Hamburg! Denn solche Plätze sind auch wichtig, um die Einstiegsbarrieren zu reduzieren und Kinder für Bewegung und Aktivität zu begeistern. Als sportbegeisterter Mensch, der den Sport als wesentlichen Kleber im sozialen und gesellschaftlichen Kontext erachtet, begrüße ich den Bau jeder neuen Sportfläche. Mein Wunsch wäre: Jeder, der ein neues, größeres Gebäude erstellt, muss auf dem Dach eine Sportfläche bauen.
Wo konkret sehen Sie Verbesserungsmöglichkeiten in der Hamburger Infrastruktur?
Ich glaube, dass die Aufgabe für unsere Sportstättenverantwortlichen eine besondere ist. Wir haben zwei tolle Stadien mit dem Volksparkstadion und dem Stadion an der Feldstraße. Aber dazwischen haben wir eine Unwucht. Da haben wir im Vergleich zu anderen Städten Nachholbedarf. Man bräuchte zusätzlich ein mittleres multifunktionelles Stadion mit Naturrasen. In dem Stadion könnte man ambitionierten professionellen Sport anbieten, wie Frauen- und Drittliga-Fußball oder American Football der European League of Football. Ich bin mir sicher: In dem Moment, in dem die Sportstätten da sind und man ein Angebot unter professionellen Rahmenbedingungen anbieten kann, ließen sich die Hamburgerinnen und Hamburger noch mehr für diese Sport-Events begeistern.
Aber was ist mit dem Breiten- und Freizeitsport?
Viele soziale Probleme kriegt man mithilfe von Sport gelöst, und natürlich brauchen wir auch für den Freizeit- und Breitensport geeignete Sportstätten. Genau diese Sportstätten werden von der Stadt nun auch breitflächig saniert, wie wir alle jüngst erfreulicherweise erfahren durften; das ist gut so.
Wir müssen Kinder und Jugendliche aber auch abseits der Sportplätze zur Bewegung animieren. Es geht nicht, nur immer auf die Stadt und die Politik zu verweisen, es liegt auch in unserer Verantwortung als Institutionen und Bürger. Wir haben mit dem HSV-Klassenzimmer vor Jahren eine kostenfreie Aktion ins Leben gerufen, bei der wir Kindern beibringen, wie man sich gesund und nachhaltig ernährt, und wir begeistern sie für den Sport. Die Relevanz von Sport darf nach meinem Dafürhalten in unserer Gesellschaft eine noch deutlich höhere Beachtung erfahren.
AKTIV GEGEN GEWALT
Der HSV engagiert sich in zahlreichen Projekten auch gesellschaftlich und sozial. Die Stiftung „Der Hamburger Weg“ führt dauerhafte, einzelne und neue Projekte und Events für Hamburgs Nachwuchs in den Bereichen Bildung, Soziales und Sport durch. Dazu gehört das „Hamburger Klassenzimmer“, das in Workshops gesellschaftlich relevante Themengebiete wie Antidiskriminierung oder ökologische Nachhaltigkeit gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern bearbeitet. Der „HSV Ankerplatz“ ist eine 2020 gegründete Anlaufstelle für Hilfesuchende, die an Spieltagen Diskriminierung oder Gewalt erlebt haben.
Bewegung steckt in jedem Kind, aber es ist ein dickes Brett, alle Kinder zum Sport zu bringen.
Ja. Aber: Sport hat mich persönlich Sozialkompetenz und Disziplin gelehrt, besonders Teamsport. Dafür dürfen die Einstiegshürden nicht so hoch sein. Wir als HSV versuchen, diese Voraussetzungen zu schaffen, also dass beispielsweise Sport nicht mit hohen Aufnahmegebühren verbunden ist oder die Mieten für Hallenzeiten und Equipment nicht mit hohen Kosten verbunden sind. Und das gilt nicht nur für Fußball, sondern für alle Sportarten. Wenn Hamburg als Stadt da den einen oder andern Schritt nach vorn machen könnte, kämen wir auch schnell von einer 3+ auf eine 2.
Sie sind Wirtschaftsmanager. Welche Rolle spielt der Sport für Unternehmen, die sich überlegen, neu in eine Stadt zu gehen? Die Wirtschaftsförderung versucht ja immer, neue Unternehmen für eine Stadt zu begeistern. Wie wichtig ist das Thema Sport?
Sport ist für eine Stadt viel mehr als nur ein Hygienefaktor. Die Leute schauen sich genau an, welche Standortvorteile es gibt. Dazu gehört zum einen der Sport als Entertainmentkomponente, zum anderen auch der Sport zur eigenen Betätigung. Ich könnte mir als sportbegeisterter Mensch nicht vorstellen, in eine Stadt zu gehen, in der ich keine ausreichende Sportstätteninfrastruktur vorfinde oder wo die klimatischen Bedingungen Sport in der freien Natur nicht zulassen. Ich bin gerne draußen und für mich ist es ein entscheidender Standortvorteil, in einer Stadt unterwegs zu sein, in der ich an allen Ecken und Enden Sport treiben und fühlen kann. Diese Einstellung spüren wir auch zunehmend bei der Mitarbeitergewinnung. Neben Gehalt, Rahmenbedingungen und Arbeitszeiten wird deutlich mehr Wert auf sportliche Interaktion und Emotionalität im Job gelegt.
Sie haben vor Ihrem Engagement beim HSV für die Allianz gearbeitet. Was unterscheidet beide Unternehmen?
Der Unterschied liegt in dem gemeinsamen emotionalen Konsens, den wir in einem Unternehmen wie dem HSV haben. Wir haben hier auch Kontroversen und Diskussionen, aber im Gegensatz zu anderen Branchen haben wir eben diesen gemeinsamen Nenner. Und das ist das, was hier jeden Spieltag passiert. Bei der Allianz ist man sich, bei allem Respekt vor diesem tollen Arbeitgeber, nicht am Montagmorgen auf dem Flur begegnet und hat sich High Five gegeben, weil es am Wochenende keinen Hagel gab. Natürlich hat man da auch ambitionierte Projekte vorangetrieben, aber dieses emotionale Erleben von positiven und Erleiden von negativen Emotionen, die Unberechenbarkeit, das ist einzigartig und für mich die größte Motivation.
Zusammengefasst gesagt: Sie können bei der Allianz gute Arbeit leisten und dann läuft es auch gut, und Sie können in einem Sportunternehmen gute Arbeit leisten und es läuft trotzdem nicht.
Die Variable Zufall ist im Teamsport einfach vorhanden, ja! Unsere Aufgabe ist es, diese Schritt für Schritt zu minimieren. Das ist kurzfristig schwieriger umsetzbar, aber ich bin der festen Überzeugung, dass man es langfristig realisiert bekommt. Meine Perspektive als Vorstand für Finanzen und Organisation ist die langfristige, über kurzfristige Unwägbarkeiten im positiven wie negativen Sinne hinaus. Da geht es um Zukunftstauglichkeit, und für mich ist dabei wichtig, dass unsere Organisation auf einem soliden Fundament steht, nachhaltig operieren kann, dass wir uns nicht in Abhängigkeiten begeben und wir uns in diesen kurzfristigen, dynamischen Zeiten von Dingen befreien, die wir nur bedingt beeinflussen können.
Im kommenden Jahr findet die Fußball-EM in Deutschland statt, und Hamburg ist einer der Spielorte. Freuen Sie sich drauf?
Die Vorfreude ist maximal! Wir sind stolz, dass wir Ausrichter von fünf Spielen sind und unser Volksparkstadion mal wieder auf internationaler Bühne präsentieren dürfen. Auch die Auslosung Ende des Jahres findet ja in Hamburg in der Elbphilharmonie statt. Das ist ein klares Bekenntnis und für Hamburg von immenser Bedeutung.
Der HSV
Der 1887 gegründete HSV gehört mit fast 100 000 Mitgliedern zu den größten Sportvereinen der Welt. Er war Gründungsmitglied der Fußball-Bundesliga und spielte bis zu seinem Abstieg 2018 als einziger Verein 55 Jahre lang in Deutschlands höchster Liga. Der Verein gewann sechsmal die deutsche Meisterschaft, dreimal den Deutschen Pokal und holte einmal den Europapokal der Landesmeister (heutige Champions League). Das Volksparkstadion bietet 57 000 Zuschauerinnen und Zuschauern Platz.