Vom Kirchdach zum Kupferdraht

Hamburgs Industriegeschichte ist eine Erfolgsstory voller Auf- und Abschwünge, die mit Gehstöcken begann, vom Kupfererz profitierte und seit 1830 vor allem eine Richtung kennt: aufwärts.
Staatsarchiv Hamburg
 

Von Jan Freitag, 7. Oktober 2022 (HW 5/2022)

Kupfer, eines der ältesten aller verhütteten Metalle, hat in Hamburg Tradition. Mit Acetat angesäuert, färbt es die Kirchdächer seit Jahrhunderten grün. Und im Bauch heimkehrender Auswanderungsschiffe beförderte Kupfererz ab Mitte des 19. Jahrhunderts einen Prozess, der die Hafen- und Handelsmetropole umwälzen sollte wie zuvor allenfalls Kompass und Sextanten: die Industrialisierung.

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Aurubis AG
Elektrolysebad der Norddeutschen Affinerie: Das Verfahren, mit dem sich Kupfer in besonders reiner Form gewinnen lässt, entwickelte der Mitarbeiter Dr. Emil Wohlwill.

War Hamburg bis dato kaufmännisch geprägt, öffneten Laderäume voll Kupfererz das Tor zur Welt ein Stück weiter – und füllten nebenbei das Fundament eines Global Players, der 1866 aus einer Reihe örtlicher Betriebe entstanden war: die Norddeutsche Affinerie. Ein Konzern, der schon vor seiner Umbenennung zu Aurubis im Jahr 2009 weltumspannend agierte und heute die größte Kupferhütte Europas ist – mit rund 6900 Angestellten in über 20 Ländern, die 2020/21 einen Umsatz von gut 16 Milliarden Euro erwirtschafteten.

Welchen Einfluss das Unternehmen nahe der Elbbrücken für den Produktionsstandort Hamburg hatte, lässt sich allerdings nur schätzen. Zum einen, weil die ökonomischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts auf dem Weg ins 20. so vielfältig waren, dass sich die Bedeutung jeder einzelnen Entwicklung kaum beziffern lässt. Zum anderen, weil „das Wissen über das norddeutsche Zentrum der Industrialisierung im Gegensatz zur gut erforschten Hafen- und Handelsmetropole lückenhaft ist“ – so Dr. Dirk Brietzke, Historiker an der Universität Hamburg, der sich intensiv darum kümmert, dieses Wissen zu erweitern.

Seine Forschungen zur norddeutschen Industrie vor dem Ersten Weltkrieg listen seitenweise Wegmarken auf, die den Weg Hamburgs zur Industriestadt markierten. Sie reichen von der Lockerung des Zunftwesens 1835 bis zur Gründung von Blohm+Voss 42 Jahre später, von der ersten Dampfmaschine in H.C. Meyers Gehstockfabrik 1839 bis zum wilhelminischen Kolonialismus, von einer Bahnstrecke nach Bergedorf 1842 bis zum Bau der Speicherstadt ab 1883. Jeder Schritt ein Wendepunkt, meint Brietzke. Im Großen wie im Kleinen.

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Brietzke/Universität Hamburg
Dr. Dirk Brietzke, Historiker an der Universität Hamburg

Schließlich hat die Umwälzung der Wirtschaftsverhältnisse nicht nur Produktion und Arbeit verändert, sondern auch Politik und Stadtbild, Gesellschaft und Kultur. Gewerkschaften und Arbeiterparteien sind dem Forscher zufolge „fürs Verständnis dieser Phase ebenso bedeutend wie die Entwicklung neuer Produktionstechniken, die Ansiedlung von Industriebetrieben, die Erschließung neuer Energiequellen, die Verbesserung des Verkehrs- und Transportwesens“. Denn Hamburgs Industrialisierung, das setzt sich bis heute fort, war zwar eine Folge von Wachstumsschritten – doch immer wieder wurde sie auch von Rückschlägen unterbrochen.

Die zeitweiligen Einbrüche konnten sich allerdings auch als wichtige Wachstumsimpulse erweisen. So war etwa der Große Brand von 1842 trotz fataler Folgen und immenser Zerstörungen wirtschaftlich zukunftsweisend. Drei Tage lang wütete er, legte ein Viertel der Stadt in Schutt und Asche, darunter Börse, Bank, etwa 1700 Häuser und 102 Speicher. Doch langfristig sorgte das Feuer für eine Neustrukturierung, die Hamburgs Aufstieg buchstäblich mit moderner Infrastruktur untermauerte – etwa dem direkt nach dem Brand errichteten ersten Sielsystem Kontinentaleuropas. Ähnliches galt für die verheerende Cholera-Epidemie 1892, in deren Folge die Stadt unter anderem das Filtersystem für Trinkwasser auf der Insel Kaltehofe, das damals seinesgleichen suchte, rasch fertigstellte.

Das Wissen über das norddeutsche Zentrum der Industrialisierung ist im Gegensatz zur gut erforschten Hafen- und Handelsmetropole lückenhaft.

Dr. Dirk Brietzke

Die Weltwirtschaftskrise von 1857 stoppte den Aufschwung dagegen ohne Innovationen. Und der gleichzeitige Kampf gegen Zollverein oder Staatenbünde – angeführt von der Commerzdeputation, der Vorläuferin der Handelskammer – drängte wichtige Unternehmen ins preußische Ottensen oder in das Hannoversche Harburg, kostete also eher Prosperität. Erst als die Handelskammer 1883 den Abriss der Viertel Kehrwieder und Wandrahm und damit den „großen Freihafen“ erstritt, wuchs der Industriesektor, den sie ab 1900 auch offiziell vertrat, im Gleichschritt mit Hafen und Handel. Die Anzahl der Betriebe stieg zwischen 1880 und 1890 von 685 auf 1199 mit 30 000 Beschäftigten – von denen allerdings viele bald aufgrund der schlechten Arbeits- und Wohnbedingungen streikten. August Bebel bezeichnete die Hansestadt sogar als „Hauptstadt des Sozialismus“. Es waren, industriell wie politisch, revolutionäre Zeiten.

Am Ende aber führten sie trotz und wegen aller Umbrüche zur Erneuerung der Kaufmannsmetropole, deren Bevölkerung sich allein zwischen 1852 und 1900 von 160 000 auf über 700 000 erhöhte. Nach dem Ersten Weltkrieg, der Hyperinflation von 1923 und der Weltwirtschaftskrise ab 1929 bedeutete der Zweite Weltkrieg einen gravierenden Einschnitt für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt: Hamburgs Rüstungsindustrie war ein Kernziel alliierter Bomben, und nach 1945 gingen die Wirtschaftsbeziehungen zu Osteuropa stark zurück.

Industrialisierung

Was genau ist Industrialisierung? Stefan Rahner vom Museum der Arbeit definiert sie „über einen bestimmten Grad an Mechanisierung, Arbeitsteilung und -konzentration in einer Fabrik mit zentraler Energieversorgung (Wasserturbine oder Dampfmaschine)“. Und er erklärt: „Nach Installierung der ersten Dampfmaschine auf dem Grasbrook wurde Hamburg in den heutigen Grenzen erst durch die Entwicklung der Gummiindustrie, (Speise-)Ölmühlen, Margarine- und Seifenfabriken, Schiffbau und Zulieferbetriebe, Maschinenbau (vor allem Hafenkräne, Schiffspropeller, Kesselbau), Schokolade- oder Zigarettenfabriken zum richtigen Industriestandort.“

Nach einem verzögerten Wirtschaftswunder entfaltete sich Hamburg somit nicht nur zur Industriestadt; auch andere Branchen wuchsen. Großverlage wie Axel Springer, Bauer und Gruner+Jahr machten Hamburg zur Pressehauptstadt, Airbus oder Lufthansa zum Luftfahrtcluster. Maschinen, Energie, Kunst- und Schmierstoffe blieben so wichtig wie der Gesundheitssektor – und der 1882 in Hamburg gegründete Konzern Beiersdorf kletterte 2008, 126 Jahre nach Erfindung des medizinischen Pflasters, in den DAX.

Auch wenn die Zukunft derzeit recht bedrohlich aussieht, unter anderem aufgrund der Energiekrise, kann Hamburg auf seine Innovationskraft und seinen Nachwuchs zählen – schließlich hat 1975 das gemeinsam mit der Handelskammer entwickelte „Hamburger Modell“ die betriebliche Ausbildung revolutioniert und die Grundlagen des dualen Systems gelegt. Eine gute Voraussetzung, um auch die heutigen Krisen zu bewältigen. Mit Hamburg als umsatzstärkster Industriestadt. Weithin sichtbar durch ihre kupfergrünen Kirchtürme.

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