Früher war … nein, beileibe nicht alles besser, aber doch vieles völlig anders. Früher, so die (falsche) Erinnerung, gab es oft weiße Weihnacht. Früher hatte die Mark noch zehn Groschen. Und früher haben sich Jugendliche um Ausbildungsplätze beworben, nicht umgekehrt. Heute hat der Euro 100 Cent, Schnee zu Heiligabend ist kaum mehr zu erwarten – und Ausbildungsbetriebe bewerben sich um Jugendliche, nicht umgekehrt. Zumindest immer häufiger.
Offizielle Kommunikation muss und darf konservativer sein als Sprachtrands.
Jannis Androutsopoulos
Kein Wunder: Die Abiturquote liegt zwar in Hamburg seit zehn Jahren recht konstant bei gut 50 Prozent, doch die Zahl der Studierenden nimmt stetig zu – während im Jahr 2000 rund 65 000 Menschen in der Hansestadt eine Hochschule besuchten, waren es 2022 bereits 119 000. Der Soziologe Klaus Hurrelmann warnte deshalb schon 2013, Deutschlands duale Ausbildung, weltweit bewundert, weltweit kopiert, „verliert die Hochqualifizierten“.
Wenn das Angebot an Arbeitsplätzen die Nachfrage übersteigt, ist das für Berufseinsteigende bequem – doch betriebswirtschaftlich wird es zum Problem. Handelskammer-Hauptgeschäftsführer Dr. Malte Heyne sprach gar von einer „Fachkräftekatastrophe“. Schon im Sommer 2022 fehlten in Hamburg 23 000 Fachkräfte, und die Zahl könnte Prognosen zufolge bis 2035 fast sechsmal so hoch liegen.
Defizite langfristig reduzieren
Um das Defizit langfristig zu reduzieren, legt die Fachkräftestrategie der Handelskammer den Fokus verstärkt auch auf lebenslanges Lernen (siehe auch hier und auf HW Online). Vor allem junge Menschen sind allerdings nicht mehr mit Schulpraktika oder Jobanzeigen allein zu ködern. Angesichts des Azubi-Mangels schlug im Juli 2022 auch die Handelskammer Alarm, als ihre Mitglieder 2191 akut unbesetzte Stellen gemeldet hatten – ein Viertel mehr als 2021.
Kreative Ansätze
Bei der Azubi-Gewinnung verfolgen viele Institutionen und Unternehmen originelle Ansätze. Das Ausbildungszentrum Berlin beispielsweise versucht, mit Technik-Camps auch Mädchen für technische Berufe zu interessieren. Die Kerpener Interaktiv GmbH hat eine digitale Parallelwelt erschaffen, in der Lehrlinge in spe virtuell durch die Softwareschmiede reisen. Im münsterländischen Beckum will die Personalchefin eines Lebensmittelherstellers ernährungsbewusste junge Menschen mit Tofu-Wurst dazu verlocken, eine Ausbildung zu beginnen. Weil der Appetit beim Essen kommt, lädt die IHK Nord das Bundesland Westfalen zur Aktionswoche „Kantine statt Mensa“ ein: Studierende, die abgebrochen haben oder sich das überlegen, kommen hier mit Unternehmen in Kontakt. Auf Facebook finden sich kaum mehr Jugendliche, doch etliche Unternehmen nutzen es trotzdem wieder vermehrt fürs Azubi-Marketing – weil dort die Eltern surfen.
Um den Personalmangel von morgen zu kontern, ist deshalb heute Kreativität vonnöten, gepaart mit der Kernkompetenz aller Arbeitsplatzinitiativen: Kommunikation. Denn die, weiß Prof. Jannis Androutsopoulos, „ist bei Digital Natives mehr als zuvor technologisch geprägt und verläuft schriftlich“. Anders als die Generationen, die zwischen 1965 und Ende der 1990er-Jahre auf die Welt kamen, von den „Boomern“ der Nachkriegszeit ganz zu schweigen, besiedelt die „Generation Z“, also die 16- bis 24-Jährigen, aus Sicht des Medienlinguisten der Universität Hamburg „Polymedia-Welten, in denen verschiedene Kommunikationsmittel organisch miteinander in Verbindung treten und sich ergänzen“.
Wollen Personaler mit 16- bis 24-Jährigen in Verbindung treten, sollten sie folglich über Messenger wie Instagram, über WhatsApp-Gruppen und natürlich über berufsspezifische Portale wie LinkedIn und Xing auf Augenhöhe mit der Jugend bleiben, ohne sich einzuschmeicheln. „Weil Jüngere erwarten, dass sie ernst genommen werden, wenn man sie professionell anspricht“, rät der Experte, „muss und darf offizielle Kommunikation konservativer sein als Sprachtrends.“ Digitale Start-ups können ihr anvisiertes Personal zwar durchaus duzen, doch etwa bei der OTTO Group könnte das fast schon als übergriffig empfunden werden.
Zusatzleistungen als Anreiz
Im Bewerbungsgespräch wiederum rät Rhetorik-Trainer Felix Behm Personalabteilungen zum interessierten Smalltalk mit Fragen nach „Sinn, Wertschätzung, Zielen“. Führt das gebrochene Eis auf den festen Grund einer Lehrstelle, sei die regelmäßige Motivation der Vorgesetzten als Mentoren und Coaches dann ähnlich zielführend wie empathische Kritik oder wechselseitiges Feedback. Der Weg dorthin führt jedoch übers steinige Terrain gestiegener Erwartungshaltungen.
Um Azubis in spe, die durchschnittlich vier Stunden täglich mit Social Media verbringen, überhaupt an den Verhandlungstisch zu kriegen, müssen Betriebe also auch „out of the box“ denken. War die Lehrstelle plus Festanstellung bis zur Rente lange das Maß aller Lohnerwerbsdinge, sollten Arbeitsplätze heute mehr als Platz zum Arbeiten bieten. Mitsprache und Erfolgsprämien, Incentives (etwa Gratifikationen) und Kinderbetreuung, Freizeitangebot und Fortbildung, E-Bike und veganes Curry statt Dienstwagen und Currywurst-Pommes, Gleitzeit bis hin zur Viertage-Woche. Was in der Dotcom-Ära IT-Start-ups vorbehalten blieb, stellen heute auch manche Industriebetriebe in Aussicht.
So laden Unternehmen etwa zum Azubi-Speeddating ein – wie Ende September die Handelskammer – oder, Beispiel Körber AG, veranstalten Career-Days: Um 200 freie Stellen auf allen Erfahrungsstufen zu füllen, trat der Hamburger Maschinenbauer hier explizit jugendaffin auf. Mit Erfolg. Die Zahl der Bewerbungen, jubelte Personalchefin Gabriele Fanta, „hat sich um 40 Prozent erhöht“. Der Gabelstapler-Produzent Still sucht derweil im hippen VW-Bulli Nachwuchskräfte – und nach Vertragsunterzeichnung erhalten diese Notebooks. Und Konkurrent Jungheinrich bietet dem Bestandspersonal Prämien für die Vermittlung von Lehrlingen an.
Die betriebliche Ausbildung attraktiver machen
Auch HVV-Tickets oder die AzubiCard der Handelskammer, die attraktive Angebote wie ermäßigte Kinobesuche oder Sportangebote bereithält, können die betriebliche Ausbildung attraktiver machen. Und wenn es wirkt, sind digitale Willkommensmappen, Hilfen bei der Wohnungssuche oder Einladungen zum Vorstandsgrillabend eine Option, damit sich die Auszubildenden nicht schnell wieder umorientieren. Alles Aspekte moderner Rekrutierungskonzepte, denen auch die Azubi-Bundeskampagne, die die Kammer-Dachorganisation DIHK Mitte Februar startet, Tribut zollen dürfte.
Anteilnahme vom Erstkontakt bis zur Langzeitbindung schafft ein Gemeinschaftsgefühl – und angesichts dessen, dass die erwerbstätige Bevölkerung laut einer Bertelsmann-Studie bis zum Jahr 2040 um rund fünf Millionen abnehmen könnte, ist das auch dringend nötig. Bis dahin rät Enzo Weber, der Autor der Studie, angesichts gewandelter Arbeitswelten zur Sprachanpassung. Den Begriff „Berufsabschluss“ findet er fatal, weil sich „Arbeitnehmer heute endlos weiterqualifizieren“. Aber auch ihre Vorgesetzten sind zur Fortbildung aufgerufen: Um Azubis nicht als Arbeitskräfte zu überzeugen, sondern als Gleichgesinnte.