Der Vormarsch von Künstlicher Intelligenz (KI) wird den Arbeitsmarkt in Europa und den USA fundamental verändern, konstatiert unter anderem das Global Institute der Unternehmensberatung McKinsey. Laut einer im vergangenen Mai veröffentlichten Studie können bis 2030 rund 30 Prozent der aktuellen Arbeitsstunden durch Technologien wie KI automatisiert werden.
In Deutschland werden demnach in den kommenden sechs Jahren bis zu drei Millionen Berufswechsel erwartet. Die größten Umwälzungen und Einsparungen dürften bei administrativen Bürotätigkeiten anstehen, gefolgt von Kundenservice, Vertrieb und Produktion. „Die Nachfrage nach technologischen und sozial-emotionalen Fähigkeiten wird zunehmen“, sagt Sandra Durth, Co-Autorin der Studie.
Welches Potenzial diese Entwicklung für den Arbeitsmarkt birgt, wird derzeit intensiv diskutiert. Oliver Süme, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Internetwirtschaft eco, ist jedenfalls überzeugt: „Die Integration von Künstlicher Intelligenz in verschiedene Branchen und Arbeitsbereiche kann einen signifikanten Beitrag zur Linderung des Fachkräftemangels in Deutschland leisten.“
Fest steht: Je eher KI bestimmte Aufgaben von Fachkräften erledigen kann, desto flexibler müssen diese künftig sein. Lebenslanges Lernen wird immer wichtiger. „Um diesen Umbruch verantwortungsvoll zu gestalten und vom beschleunigten Produktivitätswachstum zu profitieren, müssen Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik nicht nur den Einsatz von KI deutlich beschleunigen, sondern zugleich mehr als bislang in Weiterbildung und Umschulung der Beschäftigten investieren“, betont Sandra Durth.
Ich hätte nicht nur gern Tanker im Hafen, sondern auch innovative ‚Think Tanker‘ an Land.
Anke Nehrenberg
Ganz praxisnah unterstützt das Mittelstand-Digital Zentrum Hamburg den Transformationsprozess. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) können sich in Sprechstunden und Workshops passgenau informieren, welche marktreifen KI-Anwendungen für ihre jeweilige Branche bereits existieren. „Manche wollen sich dem Thema überhaupt erst einmal grundsätzlich nähern“, erzählt Christian Bruss von der Technischen Universität Hamburg. „Andere suchen bereits KI-Lösungen für ein konkretes Geschäftsmodell.“
Gemeinsam mit seinem Kollegen Tjark Zeiher kann Bruss als KI-Trainer unmittelbar mitverfolgen, wie Hamburger Firmen KI einsetzen wollen und wo Weiterbildungsbedarf besteht. „Kontrapunkt“ etwa, eine Agentur für Kommunikation, hat mithilfe von ChatGPT ihre Angebotserstellung beschleunigt. Mit dem KI-Bildgenerator „Leonardo“ konnte der Betrieb zudem Bühnen für Messestände entwerfen.
Einen großen Gewinn durch KI sehen Bruss und Zeiher bei Tätigkeiten, die oft als zeitraubend und lästig empfunden werden: Suchmaschinen-Optimierung, Buchhaltung, Sortieren von Dokumenten. Viele Unternehmen seien allerdings so sehr damit beschäftigt, ihren Betrieb am Laufen zu halten, dass sie gar nicht dazu kommen, KI wirklich innovativ einzusetzen, schätzt Bruss.
Diese Bewertung deckt sich mit Angaben des Statistischen Bundesamtes, laut denen 2023 nur jedes achte Unternehmen in Deutschland KI nutzte, und den Ergebnissen einer aktuellen Umfrage der Agentur YouGov im Auftrag des eco-Verbandes: Demnach setzen 50 Prozent der befragten Kleinbetriebe KI nicht ein und haben auch keine konkreten Pläne dafür – ebenso wie ein Drittel der mittleren Unternehmen und fast jedes fünfte Großunternehmen.
Für Letztere stehen beim KI-Gebrauch Produktivitätssteigerungen (34 Prozent), Kosteneinsparungen (35 Prozent) und eine effizientere Ressourcennutzung (35 Prozent) im Vordergrund, während sich mittlere Unternehmen durch KI vor allem eine Stärkung ihrer Innovationskraft versprechen (26 Prozent).
„Den großen Durchbruch bei KI gibt es noch nicht, vieles steckt noch in der Experimentierphase“, erklärt Anke Nehrenberg, Expertin für digitale Transformation und Vorsitzende des Handelskammer-Ausschusses für Informationstechnologie. „Für Hamburg fehlt mir noch eine überzeugende Erfolgsgeschichte, damit sich die Stadt im Bereich KI etablieren kann.“
Maschinelles Lernen basiere auf guten Daten, doch genau in diesem Bereich sieht die Unternehmensberaterin noch Handlungsbedarf: „Unternehmen verstehen, das Daten ein Asset sind, also einen Wert an sich haben können. Diesen Wert können wir heben, wenn wir eine entsprechende Wertschöpfungskette darauf aufbauen.“
Wichtige KI-Anwendungsfelder sieht Nehrenberg zum Beispiel in der Medizin, wo sich blinde Flecken minimieren ließen. Logistik und Hafen wiederum erlebten gerade einen dringend benötigten Digitalisierungsschub. So setzt zum Beispiel die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) Künstliche Intelligenz am Burchardkai ein, um das Stapeln von Containern zu optimieren.
Für den Einsatz im Hafen wurde ein neues Modul mit einer Million Datensätzen aus dem Containerumschlag trainiert. Die Lastfahrstrecken der Van-Carrier beim Laden eines Feederschiffes verkürzten sich so um etwas mehr als 25 Prozent.
In düstere Prognosen, die im Zusammenhang mit KI große Kündigungswellen erwarten, stimmt Anke Nehrenberg nicht mit ein. „Die Maschine braucht ja Erfahrungswissen“, sagt sie. „Und es wird noch eine ganze Zeit dauern, bis all die Wahrnehmungen und Kommunikationsabläufe eines Menschen auf eine Maschine übertragen werden können.“ Am ehesten sieht sie einen Schub in jenen Berufsfeldern, in denen die Menschen ohnehin bereits IT-affin agieren: Softwareentwicklung, Programmierung, kreative Arbeit mit Musik und Bildern.
Als Best-Practice-Beispiel für eine smarte KI-Entwicklung aus Hamburg nennt sie die Firma Musicube, die mittlerweile vom US-Unternehmen Songtradr gekauft wurde. Co-Gründerin Agnes Chung und ihr Team haben eine Künstliche Intelligenz entwickelt und trainiert, die Songs automatisiert nach Kategorien verschlagwortet, beispielsweise nach Stimmungen, Gesangsmerkmalen, Instrumenten und Tempo. So wird nicht algorithmusgetrieben das Populärste favorisiert, sondern ein anderer Zugang zu Musik geschaffen.
Für Anke Nehrenberg liegt der Fokus auf dem „tangible tomorrow“. Also auf dem, was in naher Zukunft greifbar und umsetzbar ist. Dafür bedarf es ihrer Ansicht nach Mut und auch effektive Förderprogramme, die seitens der Politik gestützt und finanziert werden. Mit Konzepten, die handlungsorientiert sind und Kompetenzen in der Metropolregion bündeln: „Ich hätte nicht nur gern Tanker im Hafen, sondern auch innovative ‚Think-Tanker‘ an Land.“
Eine aktuelle Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte sieht in Deutschland eine hohe Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung und Umsetzung von KI auf dem Arbeitsmarkt. Demnach rechnen 91 Prozent der deutschen Unternehmen damit, dass sich die Produktivität durch den verbreiteten Einsatz von generativer KI steigert. Allerdings glaubt nur rund ein Viertel der Befragten, dass ihr Betrieb strategisch gut oder sehr gut auf die Einführung vorbereitet sei. Insbesondere bei Talentmanagement und Risikosteuerung hinke Deutschland hinterher: www2.deloitte.com/de/de/pages/trends/ki-studie.html