Der ehrbare Kaufmann ist traditionell ein Mensch klarer Prinzipien. Haltungsstarke Hanseaten wie Joachim Gauck sind daher voll des Lobes für Hamburgs Handelsleute, die anno 1665 das Fundament der Handelskammer gebildet hatten. Nun wäre Gauck allerdings nicht Gauck, würde der Bundespräsident a. D. das kaufmännische Bekenntnis zu Freiheit, Gemeinwohl und Freihandel nicht mit einer kleinen Systemkritik würzen.
Der Große Börsensaal der Handelskammer ist prall gefüllt, als er im Angesicht von Putins Eroberungskrieg die „geschönte Realität vom Handel durch Wandel“ aufs Korn nimmt. Kurzfristiges Gewinnstreben und Nordstream 2, überlange Lieferketten oder Wehruntüchtigkeit – kaum etwas lässt der 82-Jährige an diesem späten Mittwochnachmittag ungeschoren, als er zu rund 500 Gästen einer Veranstaltung spricht, die zwar klare Worte erwartet hatten – aber gleich so harte? Würde jemand den Lautstärkepegel des ständigen Applauses messen, die Antwort wäre eindeutig „Ja“.
Schließlich hat die Handelskammer Bürgerinnen und Bürger aus Wirtschaft und Politik, Gesellschaft und Verwaltung zum Adolphsplatz geladen, um ein „Gemeinsames Zeichen für Solidarität, Zukunft und Gemeinwohl“ zu setzen. Und unter dem Hashtag #HamburgKyiv macht Handelskammer-Präses Prof. Norbert Aust schon zur Eröffnung deutlich, dass all dies im Schatten ständiger Krisen von Klimawandel bis Fachkräftemangel steht. „Solidarisches Handeln hat durch den Krieg in der Ukraine nochmals größere Bedeutung erlangt“, sagt er kämpferisch.
Denn was solidarisches Handeln in Zeiten des Krieges heißt, ist anschließend auf einer riesigen Leinwand zu sehen: Live aus Kyiv wird Wladimir Klitschko zugeschaltet, um ein Projekt der besonderen Art voranzubringen. Seine beiden Heimatstädte an Dnjepr und Elbe haben mit Unterstützung der Handelskammer einen Pakt geschlossen, den Peter Tschentscher auf dem Podium als Teil einer „neuen Städtediplomatie“ preist. „Wir wollen Partnerschaft auf Augenhöhe“, sagt der Bürgermeister über das neue Bündnis von Hamburg und Kyiv, der Hauptstadt eines kriegsgebeutelten Landes, „das nicht nur nehmen, sondern auch geben kann und will“, wie der ehemalige Boxweltmeister beteuert.
Geben und Nehmen – das passt auch zum zweiten Aspekt dieser Veranstaltung. Bevor Peter Tschentscher mit dem Bruder seines Kyiver Amtskollegen und Tatjana Kiel, CEO Klitschko Ventures und Mitinitiatorin der Initiative #WeAreAllUkrainians, über die Unterschiede zwischen strategischer Zusammenarbeit und humanitärer Hilfe diskutiert, stellt Prof. Timo Meynhardt nämlich eine von der Handelskammer in Auftrag gegebene Studie vor, die Schule machen dürfte. Als erste Kammer überhaupt ließ die in Hamburg von der Handelshochschule Leipzig ihren zivilgesellschaftlichen Einfluss über die reine Wirtschaftsinteressenvertretung hinaus ermitteln.
Ergebnis: Noch vor Bundesregierung und Deutscher Bahn liegt die Handelskammer im Gemeinwohlranking fast exakt im Mittelfeld. Damit, so Studienleiter Meynhardt, erweise sich „das deutsche Kammersystem als öffentlich-rechtlich geschaffene Selbstverwaltungsstruktur erneut als Säule der sozialen Marktwirtschaft“. Mit Hamburg als Vorreiter einer Selbstreflexion, die weit über das Ökonomische hinausweist. Die „Idee des Gemeinwohls“, sei schließlich „spätestens seit Aristoteles eng mit der des Guten“ verbunden. „Ohne Gemeinwohl keine Freiheit“, fügt der Wirtschaftspsychologe noch hinzu – und meint damit explizit auch die Veranstaltung im Großen Börsensaal.
Eine Veranstaltung, bei der es für Joachim Gauck auch um Freiheit geht – wenngleich nicht jene der „Pubertierenden, alles tun zu dürfen“, sondern die der Erwachsenen. „Ihre Freiheit heißt Verantwortung.“ Abschließend hat die moralische Instanz der repräsentativen Demokratie daher noch ein Extrawort des Lobes parat: Hamburgs Mäzene, nicht selten ehrbare Kauffrauen und -männer, „bringen die Stadt sogar bei Schietwetter zum Strahlen“. Dem guten Gemeinwohl sei Dank!
Gelebte Solidarität
Der Städtepakt zwischen Hamburg und Kyiv mit Unterstützung der Handelskammer sowie in Kooperation mit der Initiative #WeAreAllUkrainians und dem Verein Hanseatic Help ist ein Beispiel für gelebte Solidarität. Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger können ihren Beitrag in Form von Sach- oder Geldspenden über den Städtepakt leisten. In der zweiten Phase der Partnerschaft sollen dann die wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen gestärkt werden, um den Wiederaufbau Kyivs und die weitere positive Entwicklung beider Städte zu fördern.
Unter kyiv.hamburg.de finden Sie Informationen, wie Sie sich an der Hilfsaktion beteiligen können – und können dort den „Pakt für Solidarität und Zukunft“ im Wortlaut lesen. Die Internetseite wird fortlaufend aktualisiert und steht auch in ukrainischer und englischer Sprache zur Verfügung. In sozialen Netzwerken verwenden die Projektbeteiligten den Hashtag #HamburgKyiv.