
Die Brasilianerin Thalia Soares kennt weder das Hamburger Thalia Theater noch die Buchhandlung Thalia, dafür aber die Marke Nivea. Schließlich hat die 20-Jährige kürzlich ihre duale Ausbildung zur Industriekauffrau beim Hersteller Beiersdorf abgeschlossen – allerdings in São Paulo, weit weg vom Unternehmenssitz in der Elbmetropole. „Wir sind sehr zufrieden mit der Auszubildenden, die wir übernommen haben“, sagt André Charroni, HR Business Partner bei Beiersdorf in Brasilien.

Den theoretischen Teil der Ausbildung nach deutschem System absolvierte Thalia Soares an der Berufsschule des Colégio Humboldt. Die „Deutsche Schule in São Paulo“ ist das größte duale Berufsbildungsinstitut außerhalb Deutschlands. Seit 1982 bietet sie in Zusammenarbeit mit der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer (AHK São Paulo ) sowie dem deutschen Generalkonsulat kaufmännische Berufsausbildungen an. Bislang erlangten hier 1854 Kaufleute für Industrie, Spedition und Logistikdienstleistung sowie Digitalisierungsmanagement den AHK-Abschluss, derzeit sind 50 junge Menschen bei „Dual“ eingeschrieben.
Internationales Erfolgsmodell
Die duale Ausbildung ist ein „Exportschlager“, sagt Hannah Frey von der „DIHK-Kompetenzstelle Internationale Berufsbildung“ in Berlin. Ein an den deutschen Standard angelehntes, gemeinsam mit den AHKs entwickeltes Angebot mit lokalen Adaptionen besteht in rund 50 Ländern, „mit dem Mehrwert, dass die Leute recht schnell im Unternehmen einsetzbar sind“. Multinational aufgestellte Hamburger Konzerne wie Beiersdorf profitieren davon.
Beispiel São Paulo: Der Großraum gilt als „größte deutsche Industriestadt außerhalb Deutschlands“, die AHK São Paulo unterstützt hier rund 800 Mitgliedsfirmen. „Hamburger Unternehmen müssen keine teure Fachkraft aus Deutschland hinschicken oder eine ungelernte Person einstellen, sondern können in São Paulo selber ausbilden“, fasst Frey die Vorteile des Modells zusammen.
„Das sind wirklich sehr qualifizierte und motivierte junge Leute, die Unternehmen gerne aufnehmen“, bestätigt Hendrik Wolken, Landesleiter Brasilien bei deugro. Der Logistikdienstleister hat 73 Beschäftigte in Brasilien, 44 in Hamburg, und bildet seit 14 Jahren am Colégio Humboldt aus: „Wir haben auch in Brasilien ein starkes Nachwuchsproblem in der Logistik. Die Branche ist sehr gealtert, und es gibt nicht viele Leute, die sich für die Branche interessieren.“
Infos zur internationalen Berufsausbildung erhalten Sie bei der „DIHK-Kompetenzstelle Internationale Berufsbildung“ und hier. Statistische Angaben zu IHK-Berufsabschlüssen in Deutschland finden Sie hier.
Weltweit sind nach Auskunft von Tobias Bolle, Leiter des DIHK-Referats „Duale Berufsausbildung im Ausland“, allerdings technisch-gewerbliche Ausbildungen mehr nachgefragt als kaufmännische. Dazu zählen die Mechatroniker- und Kfz-Mechatroniker-Ausbildungen, die unter anderem die AHKs in Mexiko-Stadt, Mumbai (Indien) und Nairobi (Kenia) anbieten. Weil Maschinensteuerung und Produktionsstraßen immer komplexer werden, benötigen Fachkräfte laut Tobias Bolle zunehmend technisches Know-how mit IT-Kenntnissen.
„Unser Kerngeschäft ist die Ausbildung einheimischer Jugendlicher für deutsche Unternehmen vor Ort“, weist DIHK-Expertin Frey auf einen wichtigen Punkt hin. Die AHKs arbeiten dabei mit lokalen privaten oder staatlichen Berufsschulen zusammen, die in der Landessprache unterrichten.

Ausbildung auch auf Deutsch
Zusätzlich gibt es weltweit acht Kooperationen mit dem Weltverband der deutschen Auslandsschulen wie dem Colégio Humboldt. Lateinamerika ist hier führend. Auch in Guatemala-Stadt, Lima (Peru), La Paz (Bolivien), Santiago de Chile und Buenos Aires (Argentinien) bildet Lehrpersonal aus Deutschland aus.
Thalia Soares fand den deutschsprachigen Berufsschulunterricht in São Paulo „sehr schwierig“. Als sie bei „Dual“ anfing, waren ihre Sprachkenntnisse auf A1-Niveau, durch ihre Ausbildung erreichte sie B1. Aber bei Beiersdorf braucht sie gar kein Deutsch – Unternehmenssprache ist Englisch, und am Arbeitsplatz wird Portugiesisch gesprochen. „Die Möglichkeit, in einer internationalen Firma zu arbeiten“, reizte sie jedoch – und mit Spanisch spricht sie inzwischen vier Sprachen.

Ein weiterer Sonderfall ist die duale Ausbildung an den deutschen Auslandsschulen in Madrid und Hongkong, weil sie auch deutsche Azubis als Zielgruppe haben. Nach aktuellen Zahlen der AHK Madrid bilden Tochtergesellschaften folgender Hamburger Unternehmen aktuell in Spanien aus: Beiersdorf zwei Mechatroniker, Edeka sieben Kaufleute im Groß- und Außenhandel, Fr. Meyer’s Sohn einmal Kauffrau/-mann für Spedition und Logistikdienstleistung, Jungheinrich zwei Industriekaufleute, Kühne+Nagel mit deutscher Zentrale in der HafenCity sechs Speditionskaufleute.
In Hongkong sind Bolle zufolge schon vor Jahrzehnten bei Hamburger Logistikfirmen tätige Expats auf die AHK zugegangen, um das duale System zu etablieren. Die Spedition a. hartrodt bildet nach wie vor deutsche Azubis in der chinesischen Sonderverwaltungszone aus. Laut Katarina Ognjuk, HR Business Partner bei der Deutschland-Zentrale in Hamburg, wird im Juli „wieder ein Auszubildender aus Hongkong für vier Wochen nach Hamburg kommen und die operative Tätigkeit kennenlernen“.
Nachwuchskräften in Hamburg und an anderen deutschen Standorten bietet das Familienunternehmen am Ende des zweiten Ausbildungsjahres mehrwöchige Auslandspraktika im eigenen Netzwerk an. Das ist bei jungen Talenten sehr beliebt, weil sie im Ausland Fachwissen, Sprachkenntnisse und ihre kulturelle Kompetenz verbessern können.
Die AHKs bieten die duale Berufsausbildung nach deutschem System in rund 50 Ländern an, aktuell nehmen mehr als 10 678 Auszubildende daran teil. Bislang haben weltweit über 35 283 Personen einen AHK-Abschluss erlangt. Im Vergleich zu Deutschland, wo allein 2023 rund 260 000 Azubis ihre IHK-Abschlussprüfung ablegten (davon 6768 bei der Handelskammer Hamburg), ist das wenig. Anders als IHK-Zeugnisse sind AHK-Abschlüsse keine hoheitlichen Dokumente, sondern privatrechtliche Zertifikate. Deshalb erlangen duale Auszubildende bei 98 Prozent der DIHK-Kooperationen zusätzlich einen lokalen Abschluss, der staatlich anerkannt ist.
Auch der Hamburger Heißgetränkespezialist J.J. Darboven ermöglicht angehenden Kaufleuten für Groß- und Außenhandelsmanagement ein Praktikum bei einer ausländischen Tochtergesellschaft. Dadurch sollen Azubis „tiefere Einblicke in die dortigen Geschäftsprozesse bekommen und hier die Unterschiede im unternehmerischen Handeln der verschiedenen Länder kennenlernen“, so die Personalverwaltung.
Ein fünfwöchiges Auslandspraktikum ist zentraler Bestandteil der Europaklasse für angehende Speditionskaufleute an der Beruflichen Schule für Logistik, Schifffahrt und Touristik (BS 09). „Das Modell kenne ich nur aus Hamburg. Für uns als globales Unternehmen ist das ein Vorteil“, sagt Annabelle Blum, HR Manager bei deugro.
Positiv findet sie auch, dass der Unterricht vorwiegend auf Englisch stattfindet. Ben Schrick, der seine Ausbildung in Hamburg absolviert, freut sich schon auf sein Praktikum ab Mitte Juni bei deugro in São Paulo und Rio de Janeiro. Thalia Soares bei Beiersdorf in Brasilien hat unterdessen (noch) keine Reisepläne für Hamburg.
