Zwischen Machtübernahme und Kriegsende

Welche Handlungsspielräume hatte die Hamburger Handelskammer zur Zeit des Nationalsozialismus? Wie tief war sie ins System verstrickt? Das erforscht eine umfassende Studie, die am Donnerstag, 19. Januar, im Rahmen der Geburtstagsfeier der Kammer vorgestellt wurde. Diese setzt damit ein Zeichen der Transparenz.
HK Hamburg/Archiv
Historisches Bild der Handelskammmer

Von Jan Freitag, 18. Januar 2023

Normalerweise sind Geburtstage ja Feiertage. Den 358. Jahrestag ihrer Gründung aber nutzte die Handelskammer zur Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte. Gemeinsam mit der Stiftung „Forschungsstelle für Zeitgeschichte FZH“, einer Einrichtung der Universität Hamburg, stellte sie im Albert-Schäfer-Saal gleich zwei wissenschaftliche Untersuchungen zur Rolle der Kammer und ihrer führenden Vertreter im Nationalsozialismus vor – mit Podiumsdiskussion.

Buchpräsentation

Die Studien wurden am 19. Januar 2023 im Albert-Schäfer-Saal der Handelskammer vorgestellt. Anschließend diskutierten Hauptgeschäftsführer Dr. Malte Heyne, PD Dr. Claudia Kemper und Hannah Rentschler, Dr. Sebastian Justke, Prof. Dr. Detlef Garbe (früherer Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme) und Prof. Dr. Kirsten Heinsohn (FZH) als Moderatorin die Ergebnisse. Das Schlusswort hielt Vizepräses Bettina Hees (Vorsitzende der Stiftung Hanseatisches Wirtschaftsarchiv). Die HW berichtete.

„Ein ehrbarer Kaufmann? Albert Schäfer, sein Unternehmen und die Stadt Hamburg 1933–1956“ von Dr. Sebastian Justke befasst sich mit dem langjährigen Präses der Kammer (1946–1956) und wirft einen kritischen Blick auf seine Tätigkeit – etwa den Einsatz von Zwangsarbeitern in den Phoenix Gummiwerken AG, die er ab 1933 leitete, und deren Beteiligung an der Ausbeutungspolitik in den besetzten Gebieten Europas.

Die zweite, von zwei Historikerinnen erstellte Studie geht dagegen weit über die Rolle einzelner Personen hinaus. Nach dem Plenumsbeschluss Ende 2018, „Profiteuren und Systemgewinnern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus den Reihen des Haupt- und Ehrenamtes“ extern nachgehen zu lassen, wurden PD Dr. Claudia Kemper und Hannah Rentschler mit dieser Aufgabe betraut. Fast fünf Jahre später liegt nun eine „erste wissenschaftliche Grundlage“ zur Verstrickung der Kammer ins NS-System vor: die Studie „Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten der Handelskammer Hamburg in der NS-Zeit“.

„In ihrer Differenziertheit, Wissenschaftlichkeit und Ausgewogenheit“, heißt es im Ankündigungstext, stehe die Studie „in einem krassen Gegensatz zu der stark kritisierten Veröffentlichung ,Hanseaten unter dem Hakenkreuz‘“ von Uwe Bahnsen, die 2015 „rein wirtschaftskritische Ansätze“ verfolgt hatte. Kemper und Rentschler dringen auf 317 Seiten weit tiefer in die Materie ein. Ihre Kernthese: Als Teil des Wirtschaftssystems habe die Kammer aktiv an einer Politik mitgewirkt, die „Propaganda, Ausgrenzungen, Beteiligung an Arisierungen sowie Organisation von Zwangsarbeiten beinhaltete“.

Auf Basis bestehender Arbeiten und eigener Forschung wird verdeutlicht, dass die Handelskammer kein Opfer der Verhältnisse war, sondern Gesellschaft und Politik des Regimes substanziell mitgestaltete – sie war „Teil des NS-Systems“. Und mehr: „Gerade weil Hamburgs Groß- und Außenhandelsschwerpunkt so schlecht zur Rüstungs- und Autarkiepolitik des Nationalsozialismus passte, engagierte sich die Handelskammer besonders intensiv im Herrschaftsapparat“, heißt es in der Studie unter Bezugnahme auf die Arbeiten des Historikers Frank Bajohr.

Dafür verantwortlich war, das zeigen die 21 „biographischen Skizzen“ im zweiten Teil des Buchs, nicht nur die Kammer als Institution, sondern auch das Agieren ihrer Vertreter und Mitglieder – etwa der Präsides Hermann Victor Hugo Hübbe (1933 bis 1937) und Otto Joachim de la Camp (1937 bis 1945), die seit 1932 beziehungsweise 1933 in der NSDAP waren. De la Camp etwa, ab 1939 Wehrwirtschaftsführer und Reichskommissar in Hamburg, wurde nicht nur für seine „Verdienste bei der Durchführung von Aufgaben der Kriegswirtschaft“ geehrt, sondern „prägte die ab Ende der 1930er-Jahre auch von der Handelskammer unterstützten ,Arisierungen‘“ – ob er selbst davon profitierte, „lässt sich nicht vollends rekonstruieren“. Ebenso wie Hübbe, der „aktiv die Umsetzung von Vorgaben antijüdischer Politik in der Handelskammer vorantrieb“, war er eindeutig mitschuldig daran, dass sich die Kammer „zum wirtschafts- und handelspolitischen Arm des Regimes“ entwickelte.

Doch trotz der Verstrickungen von Kammermitarbeitern auf nahezu jeder Funktionsebene hüten sich die Autorinnen vor pauschaler Schuldzuweisung. Zum einen, weil „eine Institution wie die HK wegen ihrer Funktion, Sichtbarkeit und Vernetzung einer Integration in das NS-System nicht entgehen konnte“, so die Studie – die gleichzeitig betont, dass „Entscheidungen auch unter den Bedingungen der NS-Diktatur nicht zwangsläufig waren“. Zum anderen, weil die Radikalisierung der Kammer anders als bei SS oder Gestapo zwar in einer „dehumanisierenden Haltung gegenüber all den Gewerbetreibenden, Arbeitern, Gefangenen“ mündete, die nicht zur „Volksgemeinschaft“ zählten. „Nach Aktenlage“ lasse sich aber für kein Mitglied der Handelskammer die „Mitwirkung an einem justiziablen NS-Verbrechen“ belegen. Nach heutiger Kenntnis zumindest.

Denn die Studie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sei vielmehr eine „wissenschaftliche Grundlage“ weiterer Befunde, die jetzt mit tiefer gehender Quellenrecherche ergänzt und kontextualisiert werden müssen, so die Autorinnen. Die umfassende Auseinandersetzung der Handelskammer mit der Zeit zwischen Hitlers Machtübernahme und Kriegsende ist noch lange nicht zu Ende.

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