Der Wald ist für manche ein Sehnsuchtsort, ein Symbol für freie Natur, Ursprünglichkeit und Wanderfreuden. Doch schon immer war er auch ein Wirtschaftsfaktor. Und die Furcht, ihn zu verlieren – und damit weit mehr als ein paar Bäume –, besteht nicht erst seit dem dramatischen Klimawandel, der uns heute bestimmt. So führte etwa der immense Holzbedarf des Bergbaus und der Hütten im Erzgebirge schon seit dem 16. Jahrhundert vor Ort zur Verödung ganzer Landstriche.
Was den sächsischen Bergbaubeamten Hans Carl von Carlowitz 1711 dazu brachte, Maßnahmen für ein massives Aufforstungsprogramm zu beschreiben – und fast nebenbei den bis heute gültigen Begriff der „Nachhaltigkeit“ zu prägen: Um eine „immerwährende Holtz-Nutzung“ zu ermöglichen, dürfe man dem Wald nur so viel Holz entnehmen, wie dort nachwächst, führte er in seiner „Sylvicultura Oeconomica“ aus. Es gelte, respektvoll und pfleglich mit der Natur umzugehen – und „ganz öde und abgetriebene Holtz-Ländereyen, Plätze und Orte wiederum Holzreich, nütz und brauchbar zu machen“.
Schon damals ging es also um ein Gesamtkonzept: Naturpflege, Ökonomie und Sicherung der Lebensgrundlagen wurden selbstverständlich zusammengedacht. Wie heute, gut 300 Jahre später. Auch wenn der Begriff der Nachhaltigkeit inzwischen weiter gefasst wird. Der Duden definiert ihn als das generelle Prinzip, „nach dem nicht mehr verbraucht werden darf, als jeweils nachwachsen, sich regenerieren, künftig wieder bereitgestellt werden kann“. Und dabei gilt es, ökologische, ökonomische und soziale Aspekte gleichermaßen mit einzubeziehen: So das Konzept des „Triangle of Sustainability“, also des „Nachhaltigkeitsdreiecks“ – das übrigens auch verdeutlicht, dass Nachhaltigkeit weit mehr beinhaltet als das Streben nach Klimaneutralität.
Umwelt, Soziales und Wirtschaft sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig, und eine nachhaltige Strategie muss alle Momente berücksichtigen. Nach diesem Prinzip verfahren auch viele Unternehmen in Hamburg. Und sie sind sich klar, dass dies eine Reihe ganz unterschiedlicher Aspekte umfasst. „Nachhaltigkeit ist nie schwarz oder weiß, sondern es kommt drauf an“, sagt etwa Mimi Sewalski, Geschäftsführerin des Avocadostore – eines Online-Portals mit 70 Angestellten, das von der Hamburger Altstadt aus Lifestyle-Produkte vertreibt.
Der Avocadostore hat zehn Nachhaltigkeitskriterien aufgestellt und führt nur Marken, die mindestens eines davon erfüllen – von regional über bio bis zu fairer, sozialer Produktion. Klingt simpel, ist kompliziert. Menschen tun sich schließlich schwer damit, alte Gewohnheiten aufzugeben. Deshalb gilt es auch, Kundschaft zu überzeugen statt zu überfordern: „Wir zeigen, dass nachhaltige Produkte qualitativ besser sind, aber auch stylish und cool“, betont Mimi Sewalski. „Nachhaltig bedeutet nicht Verzicht, sondern weniger, aber besser zu kaufen!“ Klingt kompliziert, ist simpel.
Der Shell-Konzern mit seinen deutschlandweit 4800 Mitarbeitenden, von denen die meisten in Hamburg beschäftigt sind, setzt unter anderem auf Elektromobilität und auf die Reduzierung von CO2-Emissionen. Diese betreffen zu 90 Prozent endverbrauchte Produkte, so Jens Müller-Belau, Geschäftsführer Energy Transition bei Shell, – von Schmier- und Kraftstoff bis hin zu chemischen Produkten und Strom. Zusätzlich will der Manager eigene Lieferketten und Betriebe dekarbonisieren. Dazu gehört der „Ausbau eines regelrechten Ökosystems für E-Mobilität“ – Shell unterhält bereits ein europaweites Netz an Ladestationen für E-Autos – bis zu „grünem Wasserstoff“ und dem Umzug der Fuhlsbüttler Deutschland-Zentrale ins moderne Überseequartier. Bis 2050 will Shell unter anderem auf diese Weise „alle Emissionen auf Netto-Null senken“ und Hamburg nebenbei zum „Hub für grüne Energie machen“.
Die Hansestadt bietet dafür beste Voraussetzungen – von ihrer Hochschuldichte über die ausgeprägte urbane Kultur bis hin zur aktiven Gründerszene. Willige und Tätige sind im „Tor zur grünen Welt“, wie CEO Chris Sigmund die Metropole nennt, reichlich vorhanden – und dazu zählt sein Start-up WILDPLASTIC, das aufgesammelten Kunststoff zu Müllbeuteln recycelt, ebenso wie Hamburgs CO2-neutraler Airport oder der Strauß junger Firmen, die ihre Ideen im Mai beim Event „StartAperitivo“ in der Handelskammer vorgestellt haben.
Hamburgs innovative Firmen heißen Plan3t und haben ein umweltschonendes Payback-System entwickelt. Sie heißen Flip und wollen auf Grundlage journalistischer Recherche Produkt- und Handlungsempfehlungen geben. Sie heißen Tatuka und organisieren ökologische Lieferketten für die Gastronomie. Sie heißen aber auch Otto Group und waren bereits nachhaltig, als der Begriff noch hölzern klang. Vom Soloselbstständigen bis zum Dax-Konzern versuchen die Unternehmen, Nachhaltigkeit in ihrer Praxis zu verankern.
Ortsansässige Unternehmen verkleinern also die fossilen Fußabdrücke, denken in Planeten statt in Wäldern – und handeln gleichzeitig wirtschaftlich. Produktion und Distribution, Vertrieb und Konsum sind heute in jeder Nachhaltigkeitstheorie eng verzahnt – und ebenso im Alltagshandeln. Das zeigt auch das Projekt von Christian Schiller. Als der deutsche Chef des Mitfahrportals BlaBlaCar beim Segeln entspannen wollte, geriet er in eine Abfallinsel vor Panama. Zurück in Hamburg, gründete er prompt „ein neuronales Netzwerk zirkulärer Kunststoffe“, wie er sein Altonaer Start-up, die cirplus GmbH, umschreibt. Mit seinem Upcyclingmodell will Schillers Team nicht nur Umwelt und Klima retten. Es geht auch um Rendite, Gesellschaft, Fairness und Sinn. „Nur wenn Ökologie, Ökonomie, Soziales im Einklang sind, entstehen tragfähige Geschäftsmodelle, die planetare Grenzen respektieren und lebenswerte Arbeitsbedingungen für alle Beteiligten ermöglichen“, so der tatkräftige Gründer.
Zur Nachhaltigkeit gehört eben auch die Versöhnung gegensätzlicher Interessen. Standortpolitik und Fair Trade widersprechen sich ebenso wenig wie Produktivität und begrünte Werksgelände, Energieintensität und Emissionsreduktion, lokale Wurzeln und globales Denken. Für Dr. Dirk Lau, der als Handelskammer-Abteilungsleiter für Klimawende, Energie, Industrie die Materie gut kennt, bedeutet „nachhaltig“ deshalb allgemein, „dass das Handeln den zugrunde liegenden Gegenstand und Rahmen in seiner Substanz nicht verzehrt“. Egal ob Städte, Staaten, Ökosysteme oder jene Wälder, die Carlowitz ein Jahr vor der ersten Dampfmaschine hegen wollte.
NACHHALTIGKEITSKONZEPTE
Das Triangle of Sustainability verbindet Ökologie, Ökonomie und Soziales. Donut-Ökonomie betrachtet Sicherheit und Gerechtigkeit der Zivilisation im Rahmen planetarer und sozialer Grenzen. Die Sustainable Development Goals bedeuten 17 UN-Kriterien von Hunger über Umwelt bis hin zu Gesundheit. Die Global Reporting Initiative ist eine Dialogplattform zur Nachhaltigkeitsberichterstattung kleiner bis großer Unternehmen. Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex ist ein branchenübergreifender Transparenzstandard über unternehmerische Nachhaltigkeitsleistungen.
WEITERE INFORMATIONEN
Tipps, wie Unternehmen nachhaltig wirtschaften können – etwa durch Dachbegrünung oder Mobilitätsprogramme –, finden Sie hier. Auf Nachhaltigkeit zielt auch das Lieferkettengesetz, das ab 1. Januar 2023 für Unternehmen ab 3000 Beschäftigten gilt. Es legt Sorgfaltspflichten fest mit dem Ziel, die Menschenrechte und Umweltstandards entlang der Wertschöpfungskette international zu verbessern. Informationen zum Thema und ein Best-Practice-Beispiel finden Sie hier. Die HSBA Hamburg School of Business Administration unterhält einen Lehrstuhl für Internationale Wirtschaftsethik und Nachhaltigkeit. Die Inhaberin, Prof. Sarah Jastram, bietet Unternehmen verschiedene Kooperationsformate an. Informationen erhalten Sie hier.