Frau Grimm, Sie sind seit zwei Jahren Human Resources Director beim Warenkreditversicherer Allianz Trade in Bahrenfeld. Nennen Sie sich auch selber so oder wie früher üblich Personalchefin?
Silke Grimm: Zunächst einmal bin ich bei uns einfach Silke. Wir pflegen im Haus das Du, egal auf welcher Hierarchiestufe und übrigens bereits in der Interviewphase mit neuen Mitarbeitenden. Aber wenn mich jemand fragt, wie meine Position offiziell lautet, dann bin ich HR-Direktorin für die DACH-Region bei Allianz Trade.
Womit das Wort „Resource“ unsichtbar bleibt. Was genau macht Menschen zu Ressourcen?
Ich würde eher fragen, was Menschen zum Teil einer Unternehmenskultur macht. Perspektivisch werden wir uns folgerichtig in People & Culture umbenennen, weil damit besser zum Ausdruck kommt, dass unsere Kultur den Menschen in den Fokus stellt. Nur wenn wir unsere Mitarbeitenden begeistern und nicht nur anstellen, können wir das tun, wofür wir antreten: unsere Kundschaft bestmöglich bedienen.
Und wie tun Sie das in Zeiten des Fachkräftemangels?
Zunächst mal ganz erfolgreich: Wir konnten 2023 rund 100 neue Kolleginnen und Kollegen bei uns begrüßen. Das sind fast zehn Prozent unserer Belegschaft. Sicher, auch wir brauchen manchmal länger, um Person und offene Position optimal zu besetzen. Aber was die meisten relativ schnell von uns überzeugt, ist unser Purpose.
Also die Sinnhaftigkeit der Arbeit …
Unser Purpose ist klar: Wir sichern Wirtschaft ab. Wir ermöglichen Transaktionen. Wir begleiten Unternehmen durch gute und durch schlechte Zeiten und helfen ihnen, vor allem gut durch Letztere zu kommen. Dieser eindeutige Zweck zahlt aufs Identifikationskonto unserer Angestellten ein. Das sehen wir daran, dass unsere Mitarbeitenden unserem Purpose Zustimmungswerte geben, wie sie sonst hauptsächlich karitative Einrichtungen verzeichnen – und das als Versicherungsunternehmen.
Das macht sicher einen großen Teil unserer Attraktivität als Arbeitgeber aus. Und ich denke, dass wir außerdem damit punkten, dass wir als eher mittelständisches, stabiles Unternehmen innerhalb eines großen Konzerns zahlreiche inhaltliche, aber auch nationale und internationale Karrieremöglichkeiten bieten können.
Bei aller Sinnhaftigkeit und Internationalität, welche Bedeutung hat da noch die Umgebung, also Arbeitsort und -atmosphäre?
Eine große. Der Neubau unserer Zentrale war für uns ein Riesenschritt in Richtung neue Arbeitswelten, aber auch hin zu anderen Arbeitsformen. Im „Weißen Riesen“ …
… dem inzwischen abgerissenen 23-stöckigen Hochhaus in Bahrenfeld …
Silke Grimm arbeitet seit 1994 bei Allianz Trade, davon 23 Jahre in leitender Position – zunächst als Chief Risk und Compliance Officer, bevor sie 2011 Finanzvorständin und Anfang 2022 Personalchefin im deutschsprachigen Bereich wurde. Daneben hält die 55-jährige Betriebswirtin und Diplomkauffrau mehrere Mandate, etwa im Bundesbank-Beirat oder bei der Initiative Finanzplatz Hamburg e. V.
… konnte man an der Ausstattung jedes Einzelbüros ablesen, welche Position der dort Arbeitende innehatte. Das erinnerte schon ein bisschen an „Stromberg“. Das neue Gebäude hat mit diesem Klischee rein gar nichts mehr zu tun. Es ist optisch und inhaltlich alles, was wir mit modernem Arbeiten assoziieren: flexibel, agil, interaktiv, transparent, nachhaltig. Unser Quartier, wie wir es nennen, ist damit ein Symbol von großer Strahlkraft. Und es ist konkreter Ort einer Unternehmenskultur, die lebenslanges Lernen ermöglicht, Silodenken überwindet, Zusammenarbeit fördert sowie Kommunikation und Konzentration gleichermaßen ermöglicht. Und die beste rein biologische Kantine hat, die ich kenne.
Aber gäbe es Ihre Angebote – von zeitlicher Flexibilität über Gesundheits- und Altersvorsorge bis hin zur Bio-Kantine – auch ohne den heutigen Fachkräftemangel?
Das ist unser Anspruch als moderner Arbeitgeber. Wir wollen gut ausgebildete Mitarbeitende, die sich wandelnden Kundenbedürfnisse schnell und besser als der Wettbewerb antizipieren. Dafür müssen sie exzellent ausgebildet und vorbereitet sein, aber auch motiviert, gesund und flexibel. Im Übrigen ist die Bio-Kantine ein Ergebnis eines sehr eindeutigen Votums unserer Mitarbeitenden, auf das wir flexibel und offen reagiert haben.
Flexibel sind Sie auch im Sinne von Homeoffice?
Bei uns heißt es „mobiles Arbeiten“, also außerhalb stationärer Quartiere, das ja nicht zu Hause erfolgen muss. Dafür haben wir zehn Tage pro Monat verabredet, bei mindestens einem Tag die Woche im Office. Möglich sind auch bis zu 25 Tage jährlich im Ausland. Weil Austausch als Innovationsfaktor wichtig ist, glauben wir an eine gute Kombination aus Präsenz und Mobilität.
Ist dieses Verhältnis von Präsenz und Mobilität wissenschaftlich begründet oder einfach Ihre Unternehmensphilosophie?
Wir sind sechs Wochen vor Corona in dieses Gebäude gezogen. Aufgrund von mobilem Arbeiten und Desk Sharing hatten wir in dem Zuge auch eine neue, mobile Technologie eingeführt. Das war natürlich optimal mit Blick auf die Lockdowns. Mit Blick auf den Zeitpunkt und angesichts unserer großen Vorfreude auf ein neues Arbeitsumfeld war der erste Lockdown 2020 allerdings ein Desaster.
Insofern haben wir mit der Rückkehr oder eher dem zweiten Einzug ins Quartier aus Herz und Bauch, Menschenverstand und Überzeugung eine Balance gefunden, die nicht wissenschaftlich begründet ist, aber für uns hier sehr gut passt. Ich selber arbeite in der Regel einen Tag die Woche zu Hause, bin aber wirklich gerne hier vor Ort.
Sie haben hier vor 30 Jahren angefangen – eine Ewigkeit, die bei Allianz Trade normal ist: Die durchschnittliche Verweildauer beträgt 20 Jahre. Warum haben Sie sich 1994 bei Euler Hermes beworben?
Um ehrlich zu sein, das Versicherungsgewerbe hat mich damals noch nicht so angesprochen. Die Menschen und das Unternehmen, dessen duales Ausbildungsangebot und die Art der Rekrutierung hingegen schon.
Mehr als zwei Drittel Ihrer Zeit im Unternehmen hatten Sie Führungspositionen inne. Wird heute grundlegend anders geführt als früher?
Selbstverständlich. Wandel hat eine völlig neue Geschwindigkeit bekommen und wird viel mehr als Normalzustand wahrgenommen. Ich glaube auch, dass wir uns als Marktführer unserer Rolle als Vorreiter bewusster sind und daher nicht erst auf Feedback von außen warten, sondern neue Anforderungen bereits antizipieren und reflektieren.
Kann Marktführerschaft angesichts der Größe des Apparates dahinter Nachwuchskräfte auch abschrecken?
Das glaube ich nicht. Wir sind zwar Teil eines großen Konzerns, agieren in unserer Nische aber wie ein breit aufgestellter, hochprofitabler, sehr agiler Mittelständler. Das wirkt – so zumindest unser Eindruck – eher anziehend. Das bestätigen auch die zahlreichen jungen Menschen, die sich jedes Jahr dafür entscheiden, den Praxisteil ihres Dualstudiums bei uns zu absolvieren und von denen viele auch nach Studienabschluss bei uns bleiben.
Weltmarktführer dürfen also wie Start-ups ticken, um die Generationen Y bis Z anzusprechen?
Von der Kultur her, vom Geist und von der Tonalität sicherlich schon. Die Ablaufprozesse, Anforderungen und Ansprüche unterscheiden sich dann allerdings doch enorm, wenn man eine über 100-jährige Erfolgsgeschichte schreibt und die Verantwortung für mehr als 1000 Mitarbeitende trägt. Aber machen wir uns nichts vor: Trotz flacher Hierarchien und Innovationskraft ist das Versicherungswesen zunächst mal nicht besonders sexy. Daher sage ich oft: In uns verliebt man sich auf den zweiten Blick. Dann aber so richtig – und diese Beziehung hat dann oft eine sehr lange und stabile Lebensdauer.
Müssen Sie sich auch ein wenig an der erwähnten Pro7-Serie „Stromberg“ abarbeiten, die ein fürchterliches Bild Ihrer Branche gemalt hatte?
Ach, „Stromberg“ hat vieles mit einem Augenzwinkern überzeichnet und deshalb klar ersichtlich wenig mit unserer Reise Richtung Diversität und Zukunftsfähigkeit zu tun, die ja niemals ganz zu Ende ist – auch wenn unser neues Quartier eine Weile halten dürfte.
Sie haben dieses Gebäude maßgeblich mitgeplant und gestaltet. Wurde es eher für die Belegschaft oder die Kundschaft konzipiert?
Der Nachhaltigkeits-Goldstandard tut einiges für die Außenwirkung in beide Richtungen. Dazu trägt sicherlich auch die einzige reine Bio-Kantine in Hamburg etwas bei, auf die wir sehr stolz sind. Darüber hinaus ist die praktische Auslegung, wie wir arbeiten wollen, wichtig. Dass Führungskräfte und Teams zusammen statt getrennt sitzen, ist nach außen wie nach innen gleichermaßen sichtbar. Wir verstehen unser Gebäude als Begegnungsort und glauben, es kann als Vorbild für andere dienen.
Ist es Ausdruck oder Ausgangspunkt des unternehmerischen Kulturwandels?
Der Anspruch war zuerst da, das Gebäude ermöglicht die optimale Umsetzung. Der Vorstand hatte schon im alten Gebäude den Wunsch geäußert, offener, transparenter und nahbarer zu arbeiten, und dafür im Erdgeschoss ein Jahr vor dem Auszug eine Pilotfläche als Open Space ausgewiesen. Und das Du wurde auch vorher schon gepflegt, nur nicht hausweit über alle Hierarchien hinweg. Es war also keine Revolution, sondern es handelt sich um einen Prozess, der nie aufhört. Das sieht man auch an unseren Cultural Squads.
Was tun die?
Mitarbeitende finden sich in Gruppen – sogenannten Squads – zusammen und erarbeiten eigenverantwortlich zukunftsweisende Themen und bringen sie zur Entscheidungsreife und Umsetzung. Einer unserer Squads befasst sich gerade mit der weiteren Ausgestaltung unserer hybriden Arbeitswelt, ein anderer mit Social Corporate Responsibility, und noch einer mit dem Thema Diversität.
Gibt es gegen diese Art des Wandels auch Widerstände, etwa bei Mitarbeitenden, die seit 20 Jahren und mehr im Unternehmen sind, also einer anderen Arbeitskultur entstammen?
Wandel bedeutet ja immer Veränderung. Das mag der eine mehr, die andere weniger. Entsprechend braucht es immer auch die aktive Einbindung der Betroffenen. Ein Beispiel: Weil wir nicht einfach in ein neues Gebäude gezogen sind, sondern den Umzug und die damit einhergehende Veränderung unserer Art des Arbeitens mit unseren Mitarbeitenden aktiv mitgestaltet haben, war der Übergang für uns relativ fließend. Platzsparende Konzepte wie Desk Sharing …
… also wechselnde Arbeitsplätze im Büro …
… wurden akzeptabler, weil wir sie offen kommuniziert und die Erwartungen durch Botschafter aus den einzelnen Bereiche oder durch Baustellenbegehungen gemanagt haben. Activity Based Working, in unserem Fall 70 Prozent Arbeitsplätze für 100 Prozent Mitarbeitende, nimmt schließlich nicht nur das Einzelbüro weg, sondern schafft an anderer Stelle Freiräume und Begegnungsorte. Und diesem Konzept mit Akzeptanz zu begegnen, das gelingt nur, wenn die Mitarbeitenden eingebunden werden. Hilfreich ist zudem, dass es zwar im alten Gebäude mit 23 Etagen insgesamt mehr Fläche gab, es aber eher eng wirkte. Und unser neues, kompaktes Quartier ist nun wahrlich alles andere als eng. Es ist viel leichter und luftiger.
Also keine Widerstände?
Doch, doch. Wie gesagt: Bei jeder Unternehmensentscheidung gibt es Menschen, denen der Wandel schwerer fällt als anderen. Das gilt auch für Führungskräfte, die plötzlich bei all ihren Entscheidungen mehr im Blickfeld sind. Dafür braucht es – ob Umzug oder andere Transformationsprojekte – stets gute Begleitung und ein gutes Change Management.
Sie selbst wurden nahezu zeitgleich vom Finanz- zum Personalvorstand. Hatte das mit dem Quartier zu tun oder mit ihrem Anspruch, Diversität aktiver mitzugestalten?
Weder noch, auch als CFO habe ich mich ja überall eingemischt (lacht). Und als HR-Direktorin hat man einen ähnlich übergeordneten Blick aufs Unternehmen. Deshalb habe ich das Angebot gern angenommen, mit dem das Unternehmen bewusst Cross Functional Moves fördert.
Also Aufgabenwechsel.
Vor allem: Perspektivwechsel. Gerade wenn Menschen wie ich länger im Unternehmen sind, ist das für alle sehr bereichernd.
Wie bereichernd war dieser Wechsel fürs Thema Gleichberechtigung und Diversität?
Zunächst mal hat Diversität für mich nicht nur mit Geschlechterfragen zu tun. Weil verschiedene Perspektiven von der Herkunft übers Alter bis hin zur Identität in jeder Funktion hilfreich sind, hat unser Unternehmen das Anliegen einer guten Mischung in allen Dimensionen. Da sind wir meiner Meinung nach auf einem guten Weg – der sich auch in den Neuanstellungen des vorigen Jahres gezeigt hat.
Wie divers sind die 100 Neuen denn?
Divers sind sie vor allem in Bezug auf Internationalität und kulturelle Hintergründe. Aber es bleibt weiterhin eine Herausforderung, Projekte und Gremien divers aufzustellen, was sich nicht an einzelnen Maßnahmen, sondern nur insgesamt zeigt. Da sind wir auch laut der jüngsten erfolgreichen EDGE-Zertifizierung auf einem guten Weg.
Ziehen diverse Unternehmen automatische diverse Menschen an?
Allianz Trade ist weltweiter Marktführer im Kreditversicherungsgeschäft und Spezialist für Bürgschaften und Garantien, Inkasso sowie Schutz gegen Betrug oder politische Risiken. Bis zum umfassenden Marken-Rebranding im März 2022 hieß das Unternehmen Euler Hermes. Es ging 2002 aus einer Fusion des französischen Kreditversicherers Euler mit dem deutschen Konkurrenten Hermes Kreditversicherung hervor. Dieser hatte bereits eine 54-jährige Geschichte am Standort Hamburg.
Zumindest unterschwellig dürfte es Strahlkraft haben. Aber wir machen es ja nicht für die Außenwirkung, sondern aus Überzeugung. Das gilt für alle Bereiche, von Chancengleichheit bis Equal Pay. Da wurde uns durch das eben erwähnte EDGE-Zertifikat eine sehr ausgewogene Erfüllung der eigenen Ansprüche testiert.
Was Geschlechterparität betrifft, könnte man von Übererfüllung reden. Ein Vorstandsfoto von 1983 auf Ihrer Homepage zeigt sechs ältere Herren, das aktuelle hingegen drei Männer und vier Frauen!
Euler Hermes war auch damals schon ein hochprofitabler Arbeitgeber zufriedener Arbeitnehmer. Deshalb will ich das gar nicht werten und sage lieber: alles zu seiner Zeit. Dennoch zeigen die Bilder mit einem Augenzwinkern, dass wir uns auf eine schöne Reise begeben haben. Mittlerweile ist das Thema ein Selbstgänger, obwohl wir uns hier jetzt schon so lange darüber unterhalten (lacht).
Sehen Sie sich auf dieser Reise als Rollenmodell?
Ich habe immer gern gearbeitet, wollte Verantwortung übernehmen und in Führungsposition Spuren hinterlassen. Wenn mich das zum Rollenmodell macht, bin ich es gern. Aber die Menschen, mit denen ich meine Reise gehen konnte, waren mir stets wichtiger als meine Position.