Die Elbphilharmonie, Klassikfans ist das vermutlich unbekannt, war vor ihrem Bau nicht nur ein sehr teures, sondern auch frostiges Gebäude. Über kalte Betontreppen ging es durch kalte Betondielen in kalte Betonhallen, wo kalte Betonböden Massengüter beherbergten, die meist das Wärmste am früheren Lagerhaus waren. Auch der Duft von Kaffee oder Kakao und ähnlichem Schüttgut aber konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sockel des späteren Konzerthauses alles andere als wohlig war. Im Gegenteil. Es war ein Ort harter Arbeit. Für meinen Vater zum Beispiel.
Lange bevor der Architekt Alexander Gérard die Idee zur Umgestaltung des verwaisten Kaispeichers A hatte, war mein Vater für diesen zuständig – wobei schon sein Beruf andeutet, wie sich der Hafen ringsherum verändert: Stauerviz. Als Vormann Dutzender Schauerleute löschte er einen Teil der rund 25 000 Schiffe, die vor fast 50 Jahren noch in Hamburg festmachten, und manchmal packte ich mit an. Für fünf Mark die Stunde plus Sachwerte – Jacken aus Fernost, Pistazien aus Fernsüd und am tollsten Tag meiner Früherwerbskarriere: Marvel-Comics aus Fernwest, sortiert in der Betonkälte eines Backsteingebäudes, das wie kein zweites für den Wandel der hanseatischen Herzkammer steht.
Altes aufgeben und Neues erschaffen
Ein Wandel, der Hafennostalgiker zwar schwindelig macht, aus Sicht von Dirk Reder jedoch unvermeidbar ist. „Es ist meist erfolglos, sich struktureller Veränderung entgegenzustellen“, sagt der Historiker, dessen Kölner Geschichtsbüro für den Jubiläumsband „350 Jahre Handelskammer“ verantwortlich war, „das lehrt die Geschichte.“ Nur wer ohne allzu langes Zögern Altes aufgibt und Neues erschafft, Wege eröffnet und Märkte erschließt, Logistik und Transportmittel modernisiert, werde beim rasanten Wandel des Welthandels nicht abgehängt. „Dieser Hafen hat das offenbar gut gemacht“, meint Reder. „Sonst wäre er ja nicht mehr da.“
Schauen Sie hier eine Reportage der HHLA über den Hamburger Hafen, den Umbruch in der Hafenarbeit und die Umschlagtechnik zu Beginn der 1970er-Jahre.
Und wie er da ist: größer, schneller, höher, weiter denn je. Vor allem aber ganz anders als vor Jahrzehnten, von Jahrhunderten ganz zu schweigen. Bis zum Siegeszug der Container, erzählt Daniel Jahn vom Museum für Hamburgische Geschichte, „glich der Hafen einer Lunge“. Zur Abfertigung kleiner Schiffe zogen sich schmale Kais wie Bronchien durch weitverzweigte Becken. Doch je größer Fracht und Frachter, desto größer der Raumbedarf. Und je größer der Raumbedarf, desto weiter wanderten die Ankerplätze stromaufwärts, wo der Alsterhafen über Binnen- und Niederhafen zwischen 1863 und 1866 zum Sandtorhafen wuchs.
Hamburg war auch mal eine Bierbrauhochburg mit 600 Brauereien.
Dirk Reder
Bald drauf sprang er über die Elbe und veränderte auch hier alles – wenngleich selten rückstandslos. Für Daniel Jahn sind Häfen wie alle Siedlungen „Palimpseste“, mittelalterliche Pergamentschriften, „die durch ständiges Überschreiben unkenntlich gemacht wurden, unter der Oberfläche aber Spuren des Originals erkennen lassen“. Am Nikolaifleet, wo 1188 die Urzelle des Welthafens entstand, klingt das zwar poetischer als die profane Handelshistorie. Doch weil Daniel Jahn nicht nur im Museum arbeitet, sondern auch bei der Hamburg Port Authority, ist seine Hafensicht so emotional wie pragmatisch.
Anpassung und Tragfähigkeit
Die Bindeglieder, Jahn wiederholt sie oft, lauten Anpassung und Tragfähigkeit. Sie betrafen auch den Kaispeicher A. 1875 als Kaiserspeicher am Großen Grasbrook eröffnet, forcierte er Hamburgs Sprung zum Zentrum der anbrechenden Dampfschifffahrt. Nur 88 Jahre später wurde er, schwer kriegsversehrt, durch zeitgenössischen Beton ersetzt. „Aberwitzig belastbar“, lobt Jahn, hat sein Nachfolger „den trimodalen Umschlag vom Schiff auf den Kai ins Lager somit um einen Schritt verkürzt“. Bis Container Platz fürs nächste Wahrzeichen schufen. Wandel durch Handel steht eben für Aufbruch und Abbruch in einem – gut zu beobachten in der umliegenden Speicherstadt. Ende des 19. Jahrhunderts als Freihafen gebaut, ist der Touristenmagnet Anfang des 21. Jahrhunderts Heimat neuer Firmen und Ateliers voller Ideen und Geschäfte – für die 1883 rund 20 000 Menschen zwangsumgesiedelt wurden, wie Dirk Reder mahnt. Alles eine Frage historischer Perspektiven also.
Während das Wirtschaftswunder Autoschneisen durch pulsierende Vorkriegsquartiere trieb, entstand die HafenCity ab 2003 auf den Brachen der beendeten Stückgutära. Und während die Köhlbrandbrücke 1974 Waltershof für Hunderte 17-Tonner täglich mit Wilhelmsburg verband, ist das Industriedenkmal für 40 000 Fahrzeuge mit bis zu 40 Tonnen Gewicht darauf und gigantische Containerriesen darunter nun schlicht nicht ausgelegt. Der Abriss einer Landmarke, die von stadtbildprägend bis bautechnisch beispielhaft eigentlich alle Schutzkriterien erfüllt, scheint demnach alternativlos zu sein. Und zeigt erneut, wie sichtbar der Fortschritt bestehende Infrastrukturen umkrempelt.
„Hamburg war ja auch mal eine Bierbrauhochburg mit 600 Brauereien“, erzählt Dirk Reder und verweist auf den Kiez, der sich „ohne Matrosen mit loser Heuer“ ebenfalls komplett neu erfunden hat. Im Nachhinein, sagt sein Kollege Jahn, birgt sogar Zerstörung Chancen: Hätte der Brand die Stadt 1842 nicht großflächig verwüstet, „wäre sie ein verschlafenes Schatzkästlein wie Rothenburg“. Verschlafen ist es dort, wo mein Vater noch Kaffee, Kakao und gelegentlich sogar Superheldencomics verladen hat, heute nicht. Im Gegenteil. Nur wärmer.
Kernorte des Hafens
Nikolaifleet und Trostbrücke Als der erste Hafen im 13. Jahrhundert zur Alstermündung wanderte, konzentrierte sich am Nikolaifleet mit Rathaus, Börse und Gericht das wirtschaftliche und politische Leben.
Binnenhafen und Niederhafen Aufgrund anhaltender Versandung entstand am Baumwall die älteste betriebene Hafenanlage, die Anfang des 18. Jahrhunderts endgültig an die Elbe umzog.
Sandtorhafen und Speicherstadt Mit Eröffnung des Sandtorhafens 1866 und Baubeginn der Speicherstadt 1883 entstanden nötige Kapazitäten für Kolonialwarenumschlag und Dampfschifffahrt.
Container und Köhlbrandbrücke Mit der Umwandlung des Burchardkais zum Containerterminal wurde der Hafen von 1967 an komplett neu gebaut, 1974 kam die Köhlbrandbrücke hinzu, 1975 der Neue Elbtunnel.
Altenwerder und HafenCity Während Altenwerder 1998 dem Containerterminal weichen musste, entsteht seit 2003 Europas größtes Städtebauprojekt mit 7000 Wohnungen und 45 000 Arbeitsplätzen auf Brachland.