Herr Schnabel, Sie führen die HELM AG bereits in dritter Generation. Sind Sie eher aus familiärer Verpflichtung oder persönlicher Überzeugung in die Fußstapfen Ihres Vaters und Großvaters getreten?
Stephan Schnabel: Also zunächst mal aus mangelndem Verhandlungsgeschick (lacht). Als Jugendlicher brauchte ich irgendwann mehr Geld, konnte meinen Vater aber nicht von einer Taschengelderhöhung überzeugen. Deshalb habe ich angefangen zu jobben. Ich habe Medikamente ausgetragen, in Baumärkten gearbeitet, und irgendwann bot mein Vater mir einen Ferienjob bei HELM an. Was er nicht sagte: dass es im Lager um 7 Uhr morgens ist.
Ein Knochenjob vermutlich …
Und wenig abwechslungsreich. Nach fünfmal Ferien bin ich daher durchs Haus gelaufen und habe gemerkt, dass es dort viel abwechslungsreichere Aufgaben gibt. Ich bin also weder aus familiärer Verpflichtung noch aus persönlicher Überzeugung im Familienunternehmen, sondern wurde ein bisschen reingeschubst und habe Spaß daran gefunden. Als mein Vater eine Strichliste für oder gegen die Lehre bei HELM mit mir gemacht hat, waren dann mehr auf der Pro-Seite, und ich habe hier meinen Betriebswirt im Außenhandel gemacht, den es dank der Handelskammer gab.
Wie entwickelt man als junger Mensch eine Leidenschaft für Chemikalien, Pharmazie und Landwirtschaft?
Langsam. Meine Leidenschaft galt zunächst eher der Internationalität, dem Außenhandel also – übers Geschäft neue Kulturen und Menschen kennenzulernen, verbunden mit großer Reisetätigkeit. Das Interesse am Kaufmännischen kam anfangs also eher unabhängig vom gehandelten Gut. Trotzdem habe ich bald auch Leidenschaft für Chemie bekommen, wo ich seinerzeit eingestiegen bin.
Und haben Sie die als CEO beibehalten – oder wie nennen Sie sich selbst?
Weil hier mittlerweile so viele Englisch sprechen, ist „CEO“ gängiger als „Vorstandsvorsitzender“. Unabhängig von meiner Bezeichnung habe ich mir die Leidenschaft fürs Chemische, insbesondere mit Bezug zur Landwirtschaft, auf jeden Fall bewahrt. Als Stadtkind war sie für mich anfangs zwar neu. Aber über die letzten zwölf Jahre hat sie auch wegen der Erkenntnis, welche Probleme der Agrarproduktion sie lösen kann, geradezu mein Herz berührt.
Stephan Schnabel leitet die HELM AG seit April 2020 in dritter Generation. Bereits 1990 jobbte er als 15-Jähriger in dem Mischkonzern. Nach einer Lehre zum Außenhandelsbetriebswirt kehrte er über Stationen in Düsseldorf und Istanbul im Jahr 2009 zurück an den Hamburger Firmensitz und rückte drei Jahre später in den Vorstand auf. Kurz nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie übernahm er dessen Vorsitz.
Darf diese Leidenschaft Sie als Vorstandsvorsitzender, der fürs Gesamte zuständig ist, auch weiterhin bewegen?
Natürlich, aber mit jedem Schritt Richtung Spitze verändert sich das Tätigkeitsprofil automatisch. Wenn man mit zunehmender Verantwortung frühere Leidenschaften pflegt, haben die Tage schnell zu wenig Stunden. Aber ich habe ja auch zuvor schon alle Abteilungen im Haus durchlaufen, war lange im Ausland und wurde seit 2009 schrittweise darauf vorbereitet, hier möglicherweise die Führung zu übernehmen, weshalb mir bei Übernahme im April 2020 die Komplexität des Unternehmens bewusst war – ich saß ja auch davor schon im Vorstand. Dass ausgerechnet dann Corona ums Eck kam, war nicht vorgesehen und brachte die Aufgabe mit sich, nicht gegen die Wand zu fahren.
Offenbar mit Erfolg.
Herzlichen Dank! Im zweiten Quartal brach zwar erst mal alles zusammen, aber danach konnten wir – auch dank steigender Märkte – die Wende schaffen. Dabei haben wir uns auch strukturell neu aufgestellt. Anstatt den Fokus auf den legalen Einheiten in Hamburg und den vielen Töchtern im Ausland zu haben, haben wir viel mehr die geschäftlichen Einheiten zusammengeführt. Bis dahin waren wir ein sehr hamburgisches Unternehmen mit Niederlassungen in aller Welt. Wir haben viele Dinge in den jeweiligen Ländern dupliziert, anstatt die Dinge – etwa in Europa – zentral zu bündeln.
Es gab damals wirklich ein Gegeneinander der Sparten und Standorte?
Tendenziell war es eher ein Nebeneinander mit etwas Gegeneinander, aber Letzteres hat sich erledigt.
Und dann kamen nach Corona der Ukraine-Krieg, die Inflation und über allem der Klimawandel. Was hat das mit dem Unternehmen und seiner Internationalisierungsstrategie gemacht?
Weniger Negatives jedenfalls. Wie überall hat Corona die Art und Weise der Arbeit verändert. Dinge, die zuvor nicht möglich waren bei HELM, wurden plötzlich machbar. Mobile Work zum Beispiel, aber auch Gleitzeit oder Sprachenvielfalt. Die Pandemie hat uns flexibler gemacht. Als Anfang 2022 dann der Krieg in der Ukraine ausbrach, mussten wir schnell agieren, zum Beispiel Transportrouten ändern. Aber: Unser Büro in Russland hatten wir schon vorher aus strategischen Gründen geschlossen.
Auch aus politischen Gründen?
Nein – aus wirtschaftlichen. Die Präsenz vor Ort war einfach nicht mehr rentabel. Darüber hinaus sind zwar Lieferketten kollabiert. Aber viele unserer Produkte liefen dank der Preissteigerungen zunächst überdurchschnittlich gut. Und was die Inflation betrifft: Wer wie ich acht Jahre lang in der Türkei gearbeitet hat, wusste, was da auf einen zukommt.
Ihre Auslandserfahrung hat Sie also krisenfester gemacht?
Das müssen andere beurteilen, aber wir haben besonders 2021/22 sehr gut verdient und sind generell gut durch die Krisen gekommen.
Vor zwei Jahren allerdings verbunden mit einem Personalabbau, der auch den Standort Hamburg betraf.
Es ist immer schwer, gerade in einem Familienunternehmen, sich von langjährigen Kolleginnen und Kollegen zu trennen. Aber es gab überwiegend Verständnis für die Entscheidung, da die Kollegen und Kolleginnen auch viele der Doppelarbeiten sahen. Die Phase ist vorüber, und für viele neue Bereiche und Tätigkeiten stellen wir wieder ein.
Und wie finden Sie im aktuellen Fachkräftemangel gute Leute?
Auch das dank unserer inneren Internationalisierung. Englisch als Arbeitssprache ist wie unsere globale Vernetzung überaus hilfreich, um auch im Ausland als Arbeitgeber attraktiv zu sein.
Was tun Sie noch, um nach 123 Jahren Unternehmensgeschichte erfolgreich zu bleiben?
Aufmerksam am Weltmarkt betrachten, wo es Entwicklungspotenziale mit Rückkopplungseffekten für die Firmenzentrale gibt. Der Erfolg in Nord- und Südamerika hat sich positiv auf den Standort Hamburg ausgewirkt. Das Einzige, was hier zuletzt nicht gewachsen ist, war daher die Kantine, und selbst sie wurde modernisiert. Jetzt fokussieren wir uns auf Asien und analysieren auch dort unsere Geschäftsfelder.
Mit welchem Fokus?
Unter anderem Richtung Nachhaltigkeit. Und zwar nicht, weil es grad schick ist, sondern weil es dazu – abgesehen von unserer Verantwortung für Umwelt und Klima als Branche, die nach Energie- und Stahlproduktion am drittmeisten CO2 emittiert –, auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht keine Alternative gibt, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Da sehe ich uns aktuell gut aufgestellt.
Ist aus dieser Notwendigkeit heraus auch HELMs Zukunftsstrategie „HELMbild 2030“ entstanden, die Sie im Oktober vorstellen?
Ich würde es nicht Notwendigkeit, sondern Überzeugung nennen. Wären Nachhaltigkeitsstrategien nur Greenwashing, würde das heutzutage schnell entlarvt. Mit „HELMbild 2030“ wollen wir aufrichtig dazu beitragen, unsere Energieintensität zu reduzieren. Ein Beispiel: Wir hatten uns mit 50 Prozent an einer englischen Firma beteiligt, die Lithium aus Altbatterien recycelt. Letzten Donnerstag haben wir sie dann komplett übernommen, um von der Förderung über den Transport bis hin zur Verarbeitung Energie, Ressourcen und Geld zu sparen. Ein Geschäft wie unseres nur aus ökonomischer Sicht zu betrachten, ist heute ebenso unangebracht, wie nur aus ökologischer.
Aber was macht diesen Plan dann genau zur Strategie?
Das erfahren Sie bei der Präsentation (lacht). Im Kern besteht sie aber darin, in noch höherer Geschwindigkeit noch fokussierter aufs Ziel geringerer Emissionen hinzuarbeiten. Darf ich mal Ihr Handy haben? Die Schutzhülle hier benötigt eine Chemikalie, die wir gemeinsam im Joint Venture mit der amerikanischen Firma Cargill in einer Anlage herstellen, die den CO2-Ausstoß um 93 Prozent senken wird im Vergleich zur herkömmlichen Produktionsmethode. Das entspricht dem, was 150 000 Autos verbrauchen, wenn sie rund um die Uhr fahren.
Also umgerechnet ein Fünftel aller Pkw, die in Hamburg angemeldet sind. Haben Sie bei allem, was die HELM AG tut, eigentlich deren Sitz im Blick?
Dafür sind wir zu international aufgestellt. Aus sozialer Perspektive haben wir ihn ständig im Blick und würden aus Kostengründen nie ganze Abteilungen auslagern. Weil Hamburg naturgemäß arm an Landwirtschaft ist und selbst im nationalen Vergleich kein ausgewiesener Chemiestandort ist, blicken wir insgesamt aber eher über den Tellerrand.
Verfolgen Sie dennoch die Standortstrategie „Hamburg 2040“ der Handelskammer?
Wie wir hier leben wollen und wovon, meinen Sie? Das verfolge ich als Hamburger Jung natürlich genauso wie als Hamburger Unternehmer.
Corona hat die Art und Weise der Arbeit verändert. Die Pandemie hat uns flexibler gemacht.
Und wie sollen wir aus Ihrer Sicht hier leben und wovon?
Nicht, indem wir das tun, was viele meinen: den Fokus komplett auf den Service zu verlegen. Hamburg kann meiner Überzeugung nach nicht nur auf dem Dienstleistungssektor überleben, sondern muss auch als Industriestandort attraktiv sein. Der Hafen darf da gern als wichtigster deutscher Handelsplatz gesehen werden; er ist aber auch zentraler Faktor einer konkurrenzfähigen Industrie mit hochwertigen Arbeitsplätzen. Nehmen Sie Airbus: 18 000 vorwiegend krisenfeste Fachkräfte in Finkenwerder. Darauf sollte die Stadt bei aller Bedeutung der Dienstleistung dringend den Fokus legen.
Ist das ein Appell an die Politik zur gezielteren Strukturförderung?
Sicherlich. Ich habe mal gehört, dass der Bund sämtliche Häfen in Deutschland mit 48 Millionen Euro unterstützt. Davon geht zwar fast die Hälfte an Hamburg, aber was will unser Hafen dafür denn kaufen? Einer Exportnation sollte ihre Außenhandelszentrale definitiv wichtiger sein. Hamburgs Hafen ist fürs ganze Land von Bedeutung.
Umso mehr, als er mit denen in Rotterdam, Antwerpen, aber auch Bremerhaven zu kämpfen hat. Ist Hamburg für den globalen Konkurrenzkampf gut genug aufgestellt?
Als Flugdrehkreuz wird es nie an Frankfurt oder München heranreichen. Auch der Ballungsraum ist eigentlich zu klein. Bleibt ein Hafen, der sich allerdings besser mit dem in Bremerhaven vernetzen muss. Und weil Hamburg Jüngeren als Arbeits- und Lebensmittelpunkt viel zu bieten hat, also Fachkräfte aus aller Welt anzieht, sollte es die Ressource Jugend stärken.
Dafür steht auch, dass Hamburg als eine der Start-up-Hochburgen Deutschlands gilt.
Das mag sein, und nichts gegen Start-ups – wir investieren ja selbst in welche. Aber ich bleibe dabei: Der Industriestandort lebt von Unternehmen wie Otto, Aurubis, UKE, Airbus, Kühne. Wir Hamburger sind manchmal zu schüchtern, um betriebswirtschaftliche Kerngröße in die Welt zu tragen.
Jetzt haben Sie glatt die HELM AG selbst vergessen. Ist sie ein Global Player mit Sitz in Hamburg oder ein Familienbetrieb mit weltweit 30 Niederlassungen?
Aktuell sind wir auf dem Sprung von Letzterem zu Ersterem: Ein deutsches Unternehmen, das international tätig ist, wird zum internationalen Unternehmen mit Sitz in Hamburg. Dafür eröffnen wir gerade neue Märkte, zuletzt Malaysia. In Südostasien müssen wir ohnehin noch präsenter werden, und zwar nicht nur im Sinne von Joint Ventures; davon haben wir bereits jede Variante von 50:50 bis 90:10 oder umgekehrt. Sondern echte Partnerschaften, von denen beide Seiten zu gleichen Teilen profitieren, ohne dass wir zwingend die Führungsrolle spielen.
Der Weltmarktführer HELM AG ist nicht von Eitelkeit getrieben?
Nein. Und ich auch nicht. Das hat auch mein Vater schon so gepflegt.
Sein Motto lautete ja auch: Zu viel zu schnell zu groß ist nie gut.
Er hat jedenfalls nichts wegen der Show gemacht. Dafür war er zu bodenständig.
Und was ist Ihr Motto?
Kein ausformuliertes, aber ich denke, wir müssen als Unternehmer in Hamburg und Deutschland mutiger sein, um international mitzuhalten und dem Klimawandel aktiv entgegenzuwirken.
Mutiger im Sinne von risikofreudiger und damit bereit, auch zu scheitern?
Ja, aber auch im Sinne vom Mut, Partnerschaften einzugehen, wo es allein nicht geht. Das ist es auch, was mir persönlich Spaß macht. Ich will mit anderen den Fortschritt entwickeln und das in einer Branche, die – wenn ich ehrlich bin – nicht besonders sexy klingt. Wichtig wäre daher zu vermitteln, woran man bei uns ist. Meine Kinder zum Beispiel hängen wie alle Gleichaltrigen die ganze Zeit an ihren Smartphones. Und was steckt da drin?
Chemie.
Wie im gesamten Alltag. Wie in der gesamten Wirtschaft. Wie überall. Das versuche ich auch meinen Kindern klarzumachen. Damit kriege ich Chemie immer noch nicht sexy, schaffe aber womöglich Verständnis, dass sich die Welt nur retten lässt, wenn wir Chemie verantwortungsvoll verwenden.
Hat Ihre Kinder das auch dahingehend überzeugt, dass sie die HELM AG irgendwann in vierter Schnabel-Generation führen?
Wäre schön, aber die sind ja gerade mal aus der Schule raus und sollen mit dem glücklich werden, was ihnen gefällt.
Die HELM AG zählt heute mit gut acht Milliarden Euro Umsatz und weltweit 1600 Angestellten zu den Top 50 der deutschen Familienunternehmen. Der Konzern war ursprünglich ein kleiner Im- und Exportbetrieb. Der Großvater des jetzigen CEO, Hermann Schnabel, verwandelte ihn in ein Handelsunternehmen für Düngemittel-, Chemie-, Pflanzenschutz- und Pharmazieprodukte, das dessen Sohn Dieter zum Global Player ausbaute.