„Die Spitzengastronomie erfordert eine Menge Passion.“

Neues aus dem Hause Cornelia Poletto: Vor zwei Jahren machte die Hamburger Spitzenköchin ihrer Tochter Paola zum 18. Geburtstag ein besonderes Geschenk - ein eigenes Lokal in Hamburg, direkt neben dem Poletto-Restaurant in Eppendorf in der Goernestraße 1. Kürzlich eröffnete „Paola’s“ als Mischung aus Bar und Deli. Wir blicken zurück und dokumentieren ein Interview, das wir Ende vergangenen Jahres mit Poletto führten – über Lockdowns und Lieferdienste, neue Demut und ihr deutsches Restaurant in China.
Markus Abele
Bevor Cornelia Poletto bei Sternekoch Heinz Winkler lernte, besuchte sie eine Hotelfachschule.

Interview: Jan Freitag, 3. Dezember 2021 (HW 6/2021) Fotos: Markus Abele

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Markus Abele
Cornelia Poletto auf dem HW-Cover 6/2021

Frau Poletto, was überwiegt nach 20 Jahren mit eigenen Restaurants in Ihnen – die Köchin oder die Unternehmerin?

Cornelia Poletto: Beides zugleich. Ich leite ein Unternehmen mit 31 Mitarbeiter:innen, stehe aber noch immer am Herd. Vom Restaurant über die Kochschule bis zur Bar, die wir bald eröffnen, trägt ja alles meinen Namen; und diesen persönlichen Bezug dürfen die Gäste erwarten, wenn sie zu uns kommen.

Die Pandemie und ihre Folgen hat Sie also beruflich und persönlich gleich getroffen?

Absolut, schon als Kopf des Palazzo-Zeltes, das die zweite Saison komplett geschlossen war. In der Event- und Erlebnisgastronomie sind die Folgen nochmals dramatischer, für mich, für uns, aber auch für die Künstlerinnen und Künstler. Durch mein Restaurant in Shanghai habe ich schon früher erfahren, wie dramatisch Corona auch bei uns werden könnte. Aber das Ausmaß war am 15. März 2020, als ich mit meinen Führungskräften beschlossen habe, tags drauf nicht mehr zu öffnen, noch nicht annähernd absehbar.

Wie haben Sie damals weitergemacht?

Indem wir schnell den Take-away-Service aufgebaut, die Kochschule digitalisiert, einen Live-Stream installiert haben, damit die Gäste ihr Weihnachtsmenü mit mir virtuell an ihrer Seite eben zu Hause kochen. Allein an größere Unternehmen in Hamburg wurden 1500 Gourmet-Kochboxen, mein „Pacchetto Poletto“, verschickt.

War es Ertragskonzept oder Beschäftigungstherapie?

Weder noch. Es war eine Art kostendeckende Dienstleistung an Gast und Personal. Die übrigens schon deshalb Spaß gemacht hat, weil man mit Menschen in Kontakt geblieben ist. Echtes Teambuilding.

Gab es auch so etwas wie Teambuilding in der Branche oder der Hamburger Wirtschaft insgesamt? Ist der Standort gewissermaßen zusammengerückt?

Nicht, dass ich wüsste. In unserer Branche besteht generell das Problem, sich bis auf befreundete Kolleginnen und Kollegen wenig auszutauschen. Am Ende kämpfen die meisten für sich allein.

Wertschätzung ist für viele mindestens so wichtig wie gute Bezahlung.

 

Hat die Gastronomie nach dem dritten Lockdown, als sie unter 2G- bis 3G-Bedingungen eröffnen konnte, folglich gegeneinander um die begehrten Fachkräfte gekämpft?

Das nicht. Aber ich kenne kein Zusammentreffen, bei dem nicht sofort die Frage fällt, ob man zufällig noch Köch:innen oder Servicekräfte übrighat. Der Fachkräftemangel ist katastrophal, und er wird noch dramatischer. Es gibt viele Restaurants, die ihre Öffnungszeiten reduzieren oder vor dem Aus stehen.

Sie auch?

Zum Glück nicht. Ich habe nicht nur ein tolles, sondern auch ein gewachsenes, loyales und zusammengeschweißtes Team. Unser Küchenchef hat schon seine Ausbildung bei mir gemacht; und als unsere Restaurantleiterin gesundheitsbedingt aufhören musste, haben wir rasch jemanden gefunden, der schon in meinem ersten Restaurant mit mir gearbeitet hat.

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Markus Abele
Die Spitzenköchin Cornelia Poletto steht steht auch regelmäßig im Fernsehen am Herd und ist zudem Autorin zahlreicher Kochbücher.

Ist dieser Zusammenhalt ein Phänomen der gehobenen Gastronomie, in der auch gehobene Gehälter gezahlt werden?

Nicht unbedingt. Ich habe meine Mitarbeiter:innen schon immer respektvoll behandelt und weit über Tarif bezahlt, aber Wertschätzung oder Corporate Identity sind für viele mindestens so wichtig wie gute Bezahlung. Wer bei Poletto arbeitet, ist Teil einer Familie. Bei Airbus sagt ja auch niemand, ich arbeite in der Luftfahrtbranche.

Bedeutet familiäre Bindung im Umkehrschluss, dass die Ketten- und Franchisegastronomie oder anonymere Unternehmen anderer Branchen mehr Probleme haben, ihr Personal zu halten?

Ich kann das nicht mit Zahlen belegen, glaube aber schon. Dennoch erfordert die Spitzengastronomie natürlich eine Menge Passion. Mein Metier braucht schließlich keine Teller-Taxis, sondern Menschen mit Leidenschaft für den Job, und die sind schwer zu finden.

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Markus Abele
Bevor Poletto in ihre Heimatstadt Hamburg zurückkehrte, lebte sie einige Jahre in Bayern.

Ein weiteres Problem aller Branchen sind unterbrochene Lieferketten, also Ressourcenmangel.

In der Tat, auch das ist eine Katastrophe. Viele Rohstoffe, die früher selbstverständlich zu jeder Zeit verfügbar waren, sind plötzlich Mangelware. Das erfordert mitunter viel Improvisationsvermögen und Fantasie.

Welche Folgen hat das sprunghafte Wachstum der Lieferdienste – werden die Gäste mittelfristig vom Raus- und Ausgehen entwöhnt?

Ganz im Gegenteil. Einerseits haben die Gäste in der Pandemie das qualitativ hochwertige Kochen wiederentdeckt. Andererseits bestellen sie dadurch gern mal was Besonderes wie Poletto und haben vor allem eines nicht verloren: ihre Sehnsucht danach, sich gut bekochen und bedienen zu lassen, nach Geschichten über Essen und Wein, nach Geselligkeit. Im Lockdown haben wir vor allem den Kontakt zu Menschen vermisst. Das kann man ihnen mit zwei Jahren Corona nicht austreiben. Gott sei Dank!

Hatte die Pandemie noch anderswo positive Folgen – Demut zum Beispiel, Achtsamkeit, Entschleunigung?

Teilweise schon, aber letzteres kann ich für meinen Job ausschließen (lacht), dafür stehen wir zu sehr unter dem Strom ständig neuer Herausforderungen. Sie glauben nicht, wie viele Absagen es seit der vierten Welle gerade bei Veranstaltungen oder Weihnachtsfeiern hagelt.

Durch mein Restaurant in Shanghai habe ich schon früher erfahren, wie dramatisch Corona auch bei uns werden könnte.

 

Sorgt das im Anschluss dann wenigstens für Stress-Resilienz in der nächsten Krise?

Wir sind definitiv krisenerprobter, aber was jetzt Richtung Winter auf uns zurollt, könnte für all jene Unternehmen und Betriebe, die es so eben durch die ersten drei Wellen geschafft haben, die ultimative Krise sein. Auch, weil alle hier physisch und psychisch am Limit arbeiten, wird es besonders in der Gastronomie noch dieses Jahr ein großes Ladensterben geben.

Mit der Konsequenz, dass inhabergeführte Restaurants durch Franchisebetriebe ersetzt werden?

Auch wenn familiäre Firmen wie unsere einiges durch Motivation und Leidenschaft wettmachen, könnte das dank der Finanz- und Marktkraft größerer Ketten sein. Andererseits war die Unterstützung von Stadt und Bund bislang fantastisch. Wer ein gesundes Unternehmen besaß, hat von den Staatshilfen sehr profitiert. Wir werden sehen, ob es die im nächsten Lockdown auch geben wird oder schlimmer noch: ob wir frühere Leistungen zurückzahlen müssen. Aber größere Sorgen macht mir persönlich, wie wir über die besten Monate des Jahres um Weihnachten rumkommen. Mein Reservierungsbuch ist voll, aber die Zahl der Absagen wächst.

Was bringt es Ihnen in punkto Krisenbewältigung, dass Sie rund zwei Jahre vor der Pandemie ein Restaurant in Shanghai eröffnet haben?

Beide Städte haben ein ähnlich vielfältiges gastronomisches Angebot gehobener Küchen, von denen viele nach den ersten Lockdowns als erste wieder aufmachen durften, weil sie die strengen Hygienevorschriften leichter erfüllen konnten. Was Hamburg von China unterscheidet, ist aber definitiv, dass es in China viele Restaurants gibt, in denen man hervorragend essen kann, aber besser nicht hinter die Kulissen guckt. Weil es äußerst intim ist, von Fremden bekocht zu werden, bin ich durch die Erfahrung mit China daher noch mehr als vorher für Transparenz durch offene Küchen.

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Cornelia Poletto vor ihrer Kochschule „Cucina Cornelia Poletto“ in Eppendorf.

Kann die Gastronomie wie der Esstisch, an dem selbst Gegner ins Gespräch kommen, da eine Brückenbauerin sein?

Gemeinsam an einem Tisch zusammenzukommen, bedeutet die Gepflogenheiten anderer Kulturen kennenlernen und sogar verstehen zu können. Und so, wie die Chinesen offen sind für unsere Küche, sind wir es für deren.

Ändert sich unsere Küche durch die Pandemie auch inhaltlich, also kulinarisch?

Ich glaube schon, dass sich besonders in der gehobenen Gastronomie gerade viele fragen, ob sie 13, 14 Stunden am Tag auf diesem Niveau arbeiten wollen, oder nicht ebenso zufrieden wären, wenn sie eine frische, nachhaltige, regionale Kantine führen. Das hat aber eher mit dem Klimawandel als der Pandemie zu tun und betrifft alle Branchen. Während es bei Heinz Winkler, wo ich meine Ausbildung gemacht habe, das Größte war, fürs Silvestermenü weißen Spargel aus Peru oder Gänsestopfleber zu servieren, spüre ich heute, wie Köchinnen und Köchen bei Gemüse aus der Region das Herz aufgeht. Luxus wird heute anders definiert als damals.

Kann die Gastronomie da Einfluss auf den Rest der Unternehmenskultur nehmen?

Total, denn Essen ist nicht nur Kommunikation, sondern vieles mehr. Das Schöne an der Gastronomie ist ja, dass sie Dienstleitung mit Handwerk, Liebe, Gesundheit, Recherche verbindet. Je besser das Produkt ist, je besser ich es kenne, desto weniger muss ich daran herumkochen. Davon kann die Gesellschaft definitiv was lernen, denn in der Küche erfährt man mehr als anderswo, dass Verzicht nichts mit Entbehrung zu tun hat. Als ich meiner Tochter kürzlich Spaghetti Bolognese kochen sollte, habe ich auf dem Markt drei Kilo Hack für 70 Euro gekauft.

Das ist viel Geld.

Beinhaltet aber alle Kosten, die der Gesellschaft im Ganzen daraus entstehen, und schmeckt fantastisch. Ich bin ein sehr toleranter Mensch, höre zu und bin offen für neue Ideen. In einer Talkshow zum Thema Laborfleisch war ich vor Kurzem zunächst skeptisch, aber als die Wissenschaftlerin es in den Kontext der Massentierhaltung gestellt hat, erschien es mir plötzlich sinnvoll.

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Markus Abele
Als eine der wenigen Frauen in der Haute Cuisine kämpft Poletto seit Jahren für Gleichberechtigung.

Einsicht als unternehmerische Kernkompetenz.

Unbedingt.

Kann man ein gut geführtes Restaurant mit einem gut geführten Konzern vergleichen?

Da ich mit Rüdiger Grube verheiratet bin, der, als ich ihn kennenlernte, noch Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn war, kann ich Ihnen sagen: Ob wir uns nun über sein Unternehmen mit mehr als 300 000 Mitarbeiter:innen oder über meins mit 20 unterhalten haben – die Probleme sind immer die gleichen und lassen sich sehr, sehr gut vergleichen.

Gute Führung ist alles, meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind mir genauso wichtig wie das Wohl meiner Gäste.

 

Zum Beispiel?

Der Fisch stinkt vom Kopf her, das gilt für Firmen jeder Größe. Gute Führung ist alles, meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind mir genauso wichtig wie das Wohl meiner Gäste, hier wie dort hilft es da am meisten, sich in vertrauter Atmosphäre offen an einen Tisch zu setzen und die Belange der anderen genau anzuhören. Auch wenn unsere Margen ungleich kleinere sind, ähneln sich die Themen extrem.

Eines, das beide Branchen betrifft: Je höher man in der Hierarchie nach oben blickt, desto weniger Frauen findet man dort. Von 296 Sterneköchen sind derzeit 14 weiblich.

Wenn es nicht sogar schon wieder weniger geworden sind.

Woran liegt das?

So traurig es ist: Wer ganz oben mitspielen will, muss mehr als 100 Prozent geben, die bei mir nur möglich waren, weil ich über meinem ersten Restaurant gewohnt habe. Wenn das Babyphone ging, ist mein damaliger Mann ebenso selbstverständlich hochgegangen wie ich. Weil das leider die Ausnahme ist, schaffen es viele Frauen in der Spitzengastronomie nur, wenn sie Teil einer gastronomischen Familie sind.

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Markus Abele
Ihr erstes eigenes Restaurant eröffnete Poletto im Jahr 2000.

Könnten Demut, Achtsamkeit und Bewusstsein im Zuge der Pandemie auch hier einen Sinneswandel einleiten?

Schön wär’s. Aber stimmt schon: Die neue Hinwendung zur nachhaltigen, natürlichen, lokalen Wirtschaft könnte so viele junge Menschen für jede Art Handwerk oder Dienstleistung bewegen, dass sich wirklich was ändert.

Was ist Ihr Ausblick für die Zeit nach der vierten Welle, wenn Wetter und Impfquote Covid-19 zum gewöhnlichen Infekt machen?

Als positiv denkender Menschen bin ich zuversichtlich, dass vieles nach dem Lösen der Handbremsen toll wird. Man hat das ja schon vorigen Sommer gesehen. Und obwohl die Gastronomie – wie andere Branchen auch – viele Betriebe aussieben wird, könnten die gesunden gestärkt aus der Krise hervorgehen. Denn die haben vieles auf den Weg gebracht, was vorher im Alltagsstress nicht machbar war – von der aufgeschobenen Sanierung bis zur Raumlüftungsanlage.

Ist Hamburg generell gut aufgestellt für die Zeit nach der Pandemie?

Noch nicht, dafür sind Fachkräfte- und Warenmangel zu groß. Und in Hamburg kommen überteuerte Wohnungs- und Ladenmieten hinzu. Wer überlebt denn in Stadtteilen wie Eppendorf? Einzelhandelskonzerne, Großbäckereien, Nagelstudios! Trotzdem ist der Standort für mich als Hamburgerin eine Herzensangelegenheit; es war stets mein Traum, hier ein Restaurant zu betreiben. Schließlich gibt es kaum treuere, bessere Gäste als an diesem wirtschaftlich und touristisch herausragenden Standort.

Sind Sie eher dessen Markenbotschafterin oder umgekehrt?

Beides!

Cornelia Poletto, 1971 in Hamburg geboren und aufgewachsen nahe Paderborn, lernt nach einer Hotelfachschule beim Sternekoch Heinz Winkler. 1995 kehrt sie zurück in ihre Heimatstadt und eröffnet fünf Jahre später nach einer Etappe als Sous-Chefin ihrer Kollegin Anna Sgroi ihr eigenes Restaurant in Eppendorf, das von 2002 an acht Jahre lang einen Michelin-Stern hatte.

Die Autorin zahlreicher Kochbücher steht seit 2007 auch regelmäßig im Fernsehen am Herd, betreibt den kulinarischen Zirkus „Palazzo“ und eröffnet im April 2018 das Restaurant „The Twins by Cornelia Poletto“ in Shanghai. Als eine der wenigen Frauen in der Haute Cuisine kämpft die Mutter einer Tochter seit Jahren für Gleichberechtigung. Alle neun Hamburger Sternerestaurants werden aktuell von Männern geführt.

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