Siege, so schön sie für Siegende sind, gehen naturgemäß zulasten Besiegter. Die einen gewinnen, die anderen verlieren, beiderseitige Zufriedenheit ist da eher selten. Erstrebenswerter erscheinen deshalb Win-win-Situationen, in denen niemand vollkommen leer ausgeht. Und dann erst ihre Steigerungsform: Als „Win-win-win-Situation“, feiert Centermanager Frank Klüter ein Programm, das auch sein Wandsbek Quarree bereichert, seit der Senat dafür Mitte 2021 neun Millionen Euro aus Mitteln zur Bewältigung der Corona-Krise bereitgestellt hat: „Frei_Fläche“.
Über dem Untertitel „Raum für kreative Zwischennutzung“ haben Finanz- und Kulturbehörde mit der Hamburg Kreativ Gesellschaft (HKG) und dem Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen (LIG) ein Förderprogramm organisiert. Unvermietete Flächen hochfrequentierter Einkaufsquartiere werden darin allenfalls kostendeckend Kreativen aller Art zur Zwischennutzung überlassen. Wovon – darüber besteht vom HKG-Sprecher Jan Rehders über den Handelskammer-Experten Heiner Schote bis hin zur Modemacherin Alina Klemm Einigkeit – alle Beteiligten profitieren.
Genauer: Hamburgs Kunst- und Designszene, die für 1,50 Euro pro Quadratmeter Läden in schwer erschwinglicher Lage nutzt. Dazu Hamburgs Kundschaft, die beim Shoppen mit Alternativen zum üblichen Einkaufsangebot überrascht wird. Nicht zuletzt Hamburgs Immobilienbranche, der das Konzept dabei hilft, struktur- oder Covid- und zuletzt auch inflationsbedingten Leerstand zu füllen. Und weil die Stadt als Ganzes von der neuen Vielfalt profitiert, müsste das Siegertrio gar zum Quartett erweitert werden, dem André Kramer noch ein fünftes „Win“ voranstellt: Diversität.
Für einen Beitrag von monatlich 1,50 Euro pro Quadratmeter für die genutzte Einzelhandelsfläche – egal in welcher Lage – inklusive Nebenleistungen und Kautionen unterstützt Frei_Fläche nicht nur Kreative, sondern auch Vermietende. Zum einen deckt das Förderprogramm durch Übernahme aller Neben-, Betriebs- und Versicherungskosten die Deckungslücke fortgesetzten Leerstands ab. Zum anderen sorgt die kreative Zwischennutzung für eine Belebung der jeweiligen Quartiere.
Zwischen Fleet und Rathaus hatte er vor gut zwölf Monaten „La Tribune Noir“ eröffnet – seinen Pop-up-Store für schwarze Gewerbetreibende oder in den Worten des schwarzen Wahlhamburgers, der die Kundschaft bis Ende vergangenen Jahres mit breitem „Moin“ begrüßte: „Ohne folkloristische Klischees sollten People of Colour hier sichtbar und wirtschaftlich erfolgreich werden.“ Während westliche Musik durch das Waschbetonambiente dudelte, durchstöberte die Kundschaft ghanaische Snacks, senegalesische Taschen oder ruandisches Flechtwerk afrikanischer Art, die mindestens zur Hälfte aus Hamburg kam.
Und das half nicht nur, afrikanische Kultur vorurteilsfrei zu verbreiten, sondern kam auch Kramers Online-Shop zugute, dem 130 Quadratmeter im Rohbau der Art-Invest Real Estate am Alten Wall als „analoges Schaufenster“ dienten. Waren Internetauftritte der Frühphase des digitalen Handels Werbeflächen stationärer Läden, ist es heute auch mal umgekehrt – und damit ein weiteres Plus der Frei_Flächen, von dem alle Beteiligten geradezu schwärmen.
Die Modedesignerin Aline Klemm zum Beispiel. Wenige Meter entfernt verkaufte Kramers Nachbarin bis Dezember mit Blick auf die Handelskammer selbst entworfene Fashion aus norddeutscher Handarbeit in exquisiter Lage, „die ansonsten unbezahlbar gewesen wäre“. Als Frei_Fläche jedoch hätten ihr die 60 Quadratmeter „überall Türen geöffnet“ und nebenbei frischen Wind ins Quartier geblasen, „das im Herbst ab 17 Uhr oft ausgestorben ist“. Auch die 28-Jährige, deren Geschäft seit Ende Januar im Hanseviertel angesiedelt ist, wiederholt daher das Narrativ einer „Win-win-win-Situation“, der HKG-Sprecher Jan Rehders nur zustimmen kann.
„Wir sind mit allem zufrieden“, sagt der Projektkoordinator über Resonanz, Umsätze, Sichtbarkeit und Belebung an 15 Standorten – vom Elbe Einkaufszentrum tief im Westen bis zum City Center Bergedorf ganz im Osten. Dennoch hebt er sein Highlight hervor: „Jupiter“, ein Kunstkollektiv gegenüber Saturn in der Mönckebergstraße, das mit 8000 Quadratmetern auf den sechs Etagen des verwaisten „Karstadt Sports“-Gebäudes seiner Aussage nach „Deutschlands größte und zentralste innerstädtische kreative Zwischennutzung“ sei. Die auch Heiner Schote hervorhebt – besonders im Hinblick auf das Strategiepapier „Hamburg 2040“, mit dem die Handelskammer die City auch abseits vom Konsum beleben möchte.
Das Ziel der Initiative ist erst erreicht, wenn leere Einzelhandelsareale flächendeckend belegt werden.
Heiner Schote
Der Leiter des Teams „Handel“ äußert allerdings auch Kritik am Projekt. Das könne nämlich noch viel mehr bewirken, „wenn es stärker die Breite der Gesellschaft anspricht als vor allem die eigenen Communitys“. Dafür sei breiteres Marketing vonnöten, aber auch Angebote über das zentrale Frei_Flächen-Duo Design und Lifestyle hinaus. Vorbild ist hierbei das Wandsbek Quarree, wo parallel zum projektüblichen Kunsthandwerk der Förderverein „LeseLeo“ aufpoppen durfte und sich ebenso an Familien wendet wie das Drachenlabyrinth zwischen Malerei und Mode im Mundsburg Center.
Damit konnte die zuständige Maren Quoos nicht nur „Leerstand im Obergeschoss beseitigen und Teile der Nebenkosten abdecken“, sondern gezielt junges Publikum ansprechen. Das weiß auch Heiner Schote zu schätzen. Gleichwohl verweist er auf das nächste Manko: Die Frei_Flächen im Einkaufszentrum in der Hamburger Straße stellen große Unternehmen wie ECE und Alstria zur Verfügung. Besser wäre es jedoch, und das nicht nur aus seiner Sicht, „wenn es gelänge, auch andere als institutionelle Partner zu gewinnen“.
Bisher kommen die gut 60 Kreativprojekte auf rund 22 000 Quadratmetern Leerstand zwischen Osdorf, Winterhude, HafenCity und Bergedorf unter – bei Immobilienprofis wie Stilwerk, Union Investment, Münchener Rück, Principal Real Estate oder Levantehaus. Angesichts einer gehörigen Zahl ungenutzter Läden im Privatbesitz weist das Konzept vor allem außerhalb der City buchstäblich Brachen auf. Die Handelskammer, so Heiner Schote, könne da gern vermitteln. Schließlich sei das Ziel der Initiative erst erreicht, wenn leere Einzelhandelsareale flächendeckend belegt werden.
Zum Wohle aller. Denn analog zur Broken-Windows-Theorie, der zufolge Vernachlässigung den Abstieg ganzer Quartiere befeuert, könnte sich Leerstand selbst in der gut gebuchten Hamburger City verselbstständigen. Da sei es also an der Zeit, zog Kultursenator Carsten Brosda Ende 2021 Zwischenbilanz des ehrgeizigen Förderprogramms, „Innenstädte neu zu denken“, auf „kulturelle Nutzung zu setzen, die sich idealerweise nicht nur temporär, sondern dauerhaft im Stadtraum etabliert“.
Zu diesem Zweck gibt die Bürgerschaft diesem „Raum für kreative Zwischennutzung“ nun sogar mehr Zeit und Geld als ursprünglich geplant: Pünktlich zum Wintereinbruch wurde das Projekt verlängert. Ein weiteres Jahr also, um der Win-win-win-win-Situation neue Siegstufen hinzuzufügen. Eine davon stellt Maren Quoos ihrem Mundsburg Center bereits in Aussicht: „Wir überlegen gerade, dauerhaft günstige Flächen für Kreative freizuhalten.“ Verlieren täte dabei definitiv niemand.