Stress ist kein produktiver Zustand. Stress macht hektisch, Stress macht fahrig, Stress macht reizbar, kurzum: Stress macht Stress. Er ist daher wohl nirgendwo so fehl am Platz wie zwischen Norderelbe, Binnenalster und Hauptbahnhof. Dort also, wo Menschen gern bummeln, shoppen und verweilen, aber auch siedeln, sitzen und verkaufen. Zu dumm, dass sich die Hamburger City wie jede Innenstadt im Dauerstress befindet. Und Dr. Kai Hudetz weiß auch, warum.
Beim Handelsforum der Handelskammer listete der Geschäftsführer des renommierten Institutes für Handelsforschung (IFH) fünf „Stressthemen“ auf. Sie reichten von Verunsicherung angesichts steigender Preise über Online-Konkurrenz, Laufkundschaftsschwund und Ansehensverlust bis hin zu Überbürokratisierung. Es gebe „keinen besseren Ort für eine Diskussion zum Einzelhandel der Zukunft wie diesen“, sagte der Experte im Eröffnungsvortrag – gerade, weil sich Chancen und Risiken für den stationären Einzelhandel vor der Tür der Handelskammer ballen.
Im Zentrum ist die Hansestadt schließlich besonders attraktiv, aber auch besonders anfällig. Noch immer kämen zwar 60 Prozent der Befragten großer IFH-Studien in zentrale Lagen, um hier einzukaufen. Doch viele beklagen das austauschbare Angebot deutscher Fußgängerzonen, die Verdrängung kleiner Geschäfte durch Ketten und abendliches Aussterben.
Mit zwei Milliarden Euro Umsatz der 2.000 Geschäfte und Läden sei die City zwar ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, lobte Wirtschaftssenatorin Dr. Melanie Leonhard. „Sie unterliegt aber tiefgreifendem Strukturwandel“, den Handelskammer-Vizepräses Kathrin Haug in ihrer Begrüßungsrede mit harten, aber wahren Worten umschrieb: „Wenn das Pferd tot ist, dann muss man absteigen.“ Anders ausgedrückt: Wo gewohnte Wertschöpfungsketten kaputtgehen, muss man sich neue schaffen.
Und damit zum Untertitel der gut besuchten Veranstaltung. Vor fast 100 Gästen ging es um „Innovation und Vielfalt“, beides im Licht der Standortstrategie „Hamburg 2040“, der Kathrin Haug die Frage zufügte: „Welche neuen, aber auch alten Wirtschaftszweige sind noch zukunftsfähig?“ IFH-Chef Hudetz beantwortete sie mit dem schönen Satz, Digitalisierung sei nicht alles, „aber ohne Digitalisierung ist alles nichts“ – und fand dafür höchst verschiedene Zeitzeugen: Während er Harald Schmidt mit „das Licht am Ende des Tunnels ist oft ein herannahender Zug“ zitierte, warf der Beamer Churchills Bonmot „Verschwende keine gute Krise!“ an die Wand.
Auf dem Handelsforum in der Handelskammer stellten sich Unternehmen vor, die in neue, inspirierende Einkaufserlebnisse und innovative Services sowie in ihre Teams investieren und damit einen wichtigen Beitrag zur Renaissance der Innenstadt leisten. Teilgenommen haben Kathrin Haug (Vizepräses der Handelskammer), Dr. Melanie Leonhard (Präses der Behörde für Wirtschaft und Innovation), Dr. Kai Hudetz (Geschäftsführer der IFH Köln GmbH), Dr. Timo Christophersen (Chief Artifical Intelligence Officer (Otto GmbH & Co KG)), Andreas Bartmann (CEO Globetrotter Ausrüstung GmbH), Alina Maria Klüger (Projektmanagerin Pick & Go, Rewe Markt GmbH), Henning Riecken (Geschäftsführer E. Breuninger GmbH & Co, Flagship-Store Hamburg), Sultan Kaya (Geschäftsführer MediaMarktSaturn Hamburg GmbH) und Miriam Wolframm (Cluster General Manager LEGO Discovery Centre Hamburg).
Und so sprachen beim Handelsforum nicht nur Fachleute aus Politik und Handel, sondern Delegierte ortsansässiger Unternehmen, die Kai Hudetz’ Stressthemen lieber angehen als beklagen. Als Chief Artificial Intelligence Officer treibt Dr. Timo Christophersen bei Otto Künstliche Intelligenz voran. Am Beispiel einer Duschwanne beschrieb er fünf von 70 KI-Anwendungen, die automatisch Produkte empfehlen, Schreibfehler erkennen, und Nacktbilder meiden. Ohne KI, sagte er, „würde es Otto nicht mehr geben“.
Ähnliches berichtete Andreas Bartmann über den Outdoor-Profi Globetrotter. Obwohl der langjährige CEO von „Angst“ sprach, die KI dem Mittelstand mache, „müssen wir sie nutzen“. Bei Warendisposition, Sortimentsteuerung, Personalplanung etwa. Trotz aller Skepsis lautete sein Fazit: „KI ist nicht nur für die Großen.“ Aber die Großen sind mitunter so weit wie REWE.
Deren Projektmanagerin Alina Maria Klügers hat gerade den sechsten Testsupermarkt in Hamburg zum kontaktlosen „Pick & Go per App“ eröffnet. Weil Kameras und Wagen die Ware im Beutel erkennen, sind nicht nur Kassen, sondern Scanner unnötig. Einziger Wehrmutstropfen: „Obst und Gemüse muss man selbst wiegen.“
Unter dem Titel „Urbanes Unikat“ füllen fünf Akteure lokaler Firmen das mit Leben, was Senatorin Leonhard eingangs sagte: „Kunst, Kultur und Handel schließen sich nicht mehr aus, sie müssen eine Verbindung zueinander schaffen.“ Gesagt, getan. Miriam Wolframm beispielsweise eröffnet demnächst einen Indoor-Erlebnisspielplatz aus Millionen Legosteinen in der HafenCity. Also unweit vom Flagship-Store der Stuttgarter Kaufhauskette Breuninger, die laut Geschäftsführer Henning Riecken „kein Händler mehr ist, sondern Teil der Entertainment-Branche“ – also wegkommen will „von Sales, Sales, Sales hin zum Erlebnis“.
Hamburg ist ein bedeutender Einzelhandelsstandort und zählt zu den attraktivsten Einkaufsstädten im Norden Europas. Das Einzugsgebiet der Hansestadt umfasst Norddeutschland und das angrenzende Dänemark. Für den Hamburger Großhandel und die Handelsvermittlungen spielt Norddeutschland als Akquisitions- und Absatzmarkt nach wie vor eine bedeutende Rolle. Einen Überblick über die Informationsangebote der Handelskammer zum Thema Handel finden Sie hier.
Einkaufen als Event statt Konsum – das ist jetzt auch im „Tech Village“ des MediaMarktSaturn an der Mönckebergstraße Programm. „Die Kunden müssen gar nicht kaufen, sie sollen sich aber wohlfühlen“, beteuerte Standort-Geschäftsführer Sultan Kaya über Dutzende kostenloser Entertainment-Angebote im aufgebrezelten Elektronik-Fachmarkt. Und wer es anschließend mit Hochkultur ergänzen will, kann ab November in den „Nice Jazz Club“ von Fee Schlennstedt am Alten Wall einkehren.
Eine Ecke, die sie als zwar „wunderschön, aber abends tot“ bezeichnet. Noch zumindest. Denn die gemeinschaftliche Mischung aus Shopping, Erlebnis, Arbeit und Entspannung, gepaart mit gegenseitiger Befruchtung von stationärem und digitalem Handel könnte Hamburgs City durch die Krise bringen. Stress lass nach!