„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten“. Mit diesen Worten eröffnete Präses Prof. Norbert Aust am 19. Januar 2023 die Präsentation von zwei neuen Büchern der Forschungsstelle für Zeitgeschichte (FZH), die die Verstrickung der Handelskammer und ihrer Vertreter mit dem NS-Regime analysieren.
Der Zeitpunkt der Buchpräsentation, der 358. Geburtstag der Kammer, war bewusst gewählt: Gerade an einem solchen Tag gilt es, sich erneut zu der Verpflichtung zu bekennen, sich mit der eigenen Rolle in den düstersten Jahren der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen und Verantwortung zu übernehmen. Eine Verpflichtung, der sich die Kammer schon seit mehr als 40 Jahren durch eine Vielzahl von Aktivitäten verschrieben hat – unter anderem mit Untersuchungen, Publikationen, Ausstellungen und der Unterstützung von Initiativen zum Thema.
So beauftragte das Plenum 2016 eine „Stolpersteinkommission“, die Erinnerungskonzepte entwickelte. 2018 wurden 13 Stolpersteine zum Gedenken an die aus der Kammer ausgeschlossenen und von den Nazis ermordeten jüdischen Mitglieder des Ehrenamtes verlegt. Im Folgejahr erschien die Publikation „Gegen das Vergessen“, die ihren Lebensweg beschrieb.
Sich der Verantwortung stellen
Wie hat die Kammer unter der NS-Gewaltherrschaft agiert? Gab es Freiräume, die sie und ihre Mitarbeiter hätten nutzen können? Diese Frage beherrschte die von FZH-Vize Kirsten Heinsohn geleitete Podiumsdiskussion, an der neben den drei wissenschaftlich Verantwortlichen der Studien auch Kammergeschäftsführer Dr. Malte Heyne und der Historiker Dr. Detlef Garbe teilnahmen.
Eines wurde dabei sehr deutlich herausgestellt: Die Handelskammer agierte als der „wirtschafts- und handelspolitische Arm des Regimes“. Mit dieser Einschätzung stieß Buchautorin PD Dr. Claudia Kemper bei den Ehrengästen der Veranstaltung, unter anderem Landesrabbiner Shlomo Bistritzky und dem bei Erinnerungsprojekten sehr engagierten Ex-Präses Nikolaus Schües, auf offene Ohren.
Als Teil der nationalsozialistischen Kriegsökonomie habe die Kammer, so Kemper, aktiv an einer Politik mitgewirkt, die „Propaganda, Ausgrenzungen, Beteiligung an Arisierungen sowie Organisation von Zwangsarbeiten beinhaltete“. Diese Forschungsergebnisse, unterstrich Prof. Detlef Garbe, der 30 Jahre lang die KZ-Gedenkstätte Neuengamme leitete, seien nicht nur akademisch relevant. Dank ihrer Unabhängigkeit vermittelten sie fundierte Einblicke in die damaligen Strukturen und könnten exemplarische Hinweise auf heutige Unternehmensethik geben.
Diesen Zwang gab es tatsächlich: Die Kammer konnte „schon wegen ihrer Funktion, Sichtbarkeit und Vernetzung einer Integration in das NS-System nicht entgehen“, heißt es in der Studie. Auf dem Podium unterstrich Claudia Kemper jedoch, dass Institutionen nie nur Teil eines Systems seien: „Sie sind das System.“ Umso wichtiger sei es zu betonen, so Fachkollege Garbe, dass es bei der Bewertung historischer Schuld weniger um justiziable Verbrechen gehe, sondern vielmehr um demokratische, humanistische, also zeitlose Werte an sich. Und daran habe es damals eklatant gemangelt.
Wie Malte Heyne in der angeregten Podiumsdiskussion hervorhob, sind die neuen Studien „ein Meilenstein im Aufarbeitungsprozess, der neue Perspektiven schafft“. Denn es gehe darum, aus der Geschichte zu lernen, statt sie zu verdrängen – und darum, die scheinbaren Anforderungen des herrschenden Zeitgeistes stets an ethischen Grundwerten zu messen.
Die Handelskammer lädt die Wissenschaft ein, ihr Archiv für weitere Forschungsarbeiten zu nutzen. Schon die jetzigen Ergebnisse seien, so ergänzte Kirsten Heinsohn, nicht nur Meilen-, sondern auch Stolpersteine: „Erst vor der Tür, jetzt im Haus.“
Fotos der Veranstaltung
Bezugsquellen
Die Studien sind im Buchhandel erhältlich und in der Commerzbibliothek einsehbar:
Claudia Kemper und Hannah Rentschler: „Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten der Handelskammer Hamburg in der NS-Zeit. Einordnungen und biographische Annäherungen“, Hamburg 2023, Metropol-Verlag, 26 Euro
Sebastian Justke: „Ein ehrbarer Kaufmann? Albert Schäfer, sein Unternehmen und die Stadt Hamburg 1933–1956“, Hamburg 2023, Metropol-Verlag, 24 Euro