Auf Asphalt gebaut

Für die Handels- und Hafenstadt Hamburg war Mobilität schon immer ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Wir unternehmen einen Streifzug durch 900 Jahre Verkehrsplanung – vom Hafenbecken über die autogerechte Metropole bis hin zur lebenswerten Stadt.
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In der Boomstadt Hamburg wurde ab 1906 ein U- und Hochbahnsystem errichtet und im Februar 1912 eröffnet. Mit dabei: die Haltestelle Rödingsmarkt – damals auch noch mit Straßenbahn.

Von Jan Freitag, 7. Juni 2023 (HW 3/2023)

Mobilität ist ein moderner Begriff. Früher, als der Horizont dort endete, wohin man vom höchsten Hügel aus sehen konnte, war räumliche Beweglichkeit kein Selbstzweck, sondern der Pfad vom Haus zu Feld, Wald, Wiese, Werkbank und zurück. Um Mobilität fernab der Scholle zu denken, bedurfte es schon Gelehrter wie Aristoteles, Eroberer wie Alexander, Abenteurer wie Marco Polo und Handelsreisender – wie Hamburger Kaufleute.

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Erst Alster-Staudamm (1235), dann Flaniermeile für heiratswillige Töchter (ab 1665) und erste asphaltierte Straße in Deutschland (1838): Der Jungfernstieg hat eine bewegte Geschichte hinter sich – und ist seit 2020 wieder fast autofrei. Die Aufnahme ist um 1900 entstanden.

Denn der Bedarf nach einem Warenfluss ohne Hindernisse wie Zollschranken, holprigen und matschigen Wegen bestand seit je. Und ihm verdankt sich auch die Gründung des Hamburger Hafens – angeblich 1189 besiegelt durch Kaiser Barbarossas Freibrief zum zollfreien Handel im Mündungsdreieck von Elbe, Alster und Bille. So startete die Legende, die bis heute Hamburgs Selbstwahrnehmung bestimmt: Stadt- und Wirtschaftsentwicklung seien auf Wasser gebaut. Alles Schifffahrt also in der Region, in der rund 50 Jahre später die Hanse entsteht und Hamburgs Infrastruktur dem Seehandel unterordnet? Nicht wirklich.

Hamburgs Handel floriert auf Flüssen und Fleeten, aber auch über Straßen und Wege. Als Lübeck im 13. Jahrhundert reichsfrei wird, befestigt Hamburg die Landroute dorthin zur belastbaren Fahrbahn. Der älteste aller gepflasterten Verkehrswege in Deutschland erhält den Namen Steinstraße, führt also wetterfest in Richtung der nördlichen Hansestadt. Doch bis zur heutigen B75 ist es noch ein langer Weg …

Neue Wege und Verkehrsmittel

Die Jahrhunderte vergehen, Hamburgs Wirtschaft wird transkontinental – und neben dem Seehandel wächst auch das Straßennetz. Ab dem 18. Jahrhundert werden immer mehr Wege befestigt; bis zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist dabei Schotter der bevorzugte Belag – auch auf Ausfallstraßen, die seit Napoleons Besatzung der Stadt im Jahr 1806 nach Wandsbek, Groß Borstel, Langenhorn, Hamm, Bergedorf, Lokstedt oder Barmbek gebaut werden.

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Die Köhlbrandbrücke, 1974 feierlich eingeweiht, soll bis 2036 verschwinden.

Während der Jungfernstieg 1838 als erste deutsche Asphaltstraße Mobilitätsgeschichte schreibt, setzt sich das Kopfsteinpflaster auch abseits prächtiger Plätze durch. Fortan sind der Belastung kaum mehr Grenzen gesetzt. Und weil sich Hamburgs Bevölkerung von den 1820er-Jahren bis 1910 auf mehr als eine Million verzehnfacht, wächst der Verkehr auf allen Wegen mit, vor allem auf der Schiene, einst Inbegriff zivilisatorischen Fortschritts.

Als 1844, zwei Jahre nach Eröffnung der Eisenbahnlinie Hamburg–Bergedorf, der erste Zug vom damals noch dänischen Altona nach Kiel rollt, wird das Ereignis begeistert gefeiert – ebenso wie 23 Jahre später die Einweihung des Tidehafens, der Hamburg endgültig das Tor zur Welt aufsperrt. Noch bestimmen Pferde das Straßenbild; doch ihre Zahl verringert sich, als die Straßenbahn 1894 auf Strom umstellt, der dann ab 1911 auch die Fahrstühle des neu eröffneten Elbtunnels und ab 1912 die Wagen des zweiten deutschen Hoch- und U-Bahnnetzes antreibt. 1911 hebt der erste Zeppelin in Fuhlsbüttel ab, und 1928 teilen sich 29 600 Kraftfahrzeuge Hamburgs Straßen mit Straßenbahnen und Pferdekutschen. Aber noch sind Autos nicht dominierend …

Die autogerechte Stadt

Das ändert sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges radikal. Die Zeit des Wiederaufbaus, weiß Christoph Färber von der Handelskammer-Abteilung für Stadtentwicklung, wird schließlich „nach dem Titel eines 1959 erschienenen Buches des Architekten Bernhard Reichow mit der ,autogerechten Stadt‘ verbunden“. Während Hoch- und S-Bahn zusehends unter Tage pendeln, verändern Individual- und Lastverkehr komplett das Stadtbild.

Wegmarken der Mobilität

Hamburg hat schon früh neue Verkehrskonzepte erprobt und vorgestellt, sagt Handelskammer-Mobilitätsexperte Christoph Färber. So wurden etwa zur Internationalen Verkehrsausstellung 1979 eine Transrapid-Versuchsstrecke errichtet und (Hybrid-)Elektrobusse vorgestellt; heute erprobt man in Hamburg „Intelligente Transportsysteme“ oder eine Teststrecke für autonomes Fahren. Einige Verkehrsideen wurden zum Glück verworfen: In den 1960ern sollten für das verkehrsgerechte Wohnen ganz Ottensen und St. Georg planiert werden – umgeben von bis zu 135 Kilometer Stadtautobahn, für die man sogar Fleete asphaltiert hätte.

Industrie und Handwerk wandern in die Peripherie, Tangenten und Zubringer zerteilen ganze Viertel. Das neue Prinzip der „polyzentrischen Stadt“ denkt Wohn-, Arbeits-, Geschäftsquartiere um Verkehrsknoten herum. Die Zukunft hat vier Räder und mehr, nicht selten mit Reifen der Harburger Phoenix-Werke. Zehn Jahre, bevor die Ost-West-Straße Hamburgs City vom Hafen abschneidet, vergleicht der Landesplanungsbeauftrage Heinrich Strohmeyer Asphaltierungsmaßnahmen folgerichtig mit Operationen. Wie bei jedem Eingriff, schrieb er 1950, lasse „sich nicht vermeiden, dass hier und da gesundes Fleisch zum Opfer“ falle.

Die Straßenbahn etwa. Schon 1958 besiegelt der Senat ihr Aus. Zu träge, zu alt, zu gefährlich – und überhaupt: dauernd dem Auto im Weg. Denn als 20 Jahre später die Linie 2 letztmalig von Schnelsen zum Rathausmarkt fährt, ist Hamburg nicht nur automobil, sondern fast autoversessen. Eine der rund 2500 Brücken der wasserreichen Stadt trägt seit 1974 täglich etwa 30 000 Fahrzeuge über den Köhlbrand zur A7, die das – 1911 mit Druckluft gebohrte – Baudenkmal St. Pauli Elbtunnel flussaufwärts zeitgleich in drei, heute vier Röhren ersetzt.

Weiter östlich wird kurz zuvor die Neue Elbbrücke, Baujahr 1887, zur noch neueren Brücke verbreitert, um den stetig wachsenden Autoverkehr zu bewältigen. Nach der Gründung des weltweit ersten Verkehrsverbunds HVV 1965 erfolgt zwar ein Ausbau des ÖPNV. Allerdings meist unterirdisch, dort, wo er sich die Stadt nicht nur mit der Kanalisation, sondern auch mit Bauten wie dem Wallringtunnel teilt, der seit 1966 oberirdische Kreuzungen entlastet. Besser: entlasten sollte. Denn obwohl sich Hamburg seit 1945 geradezu zubetoniert, ist die Stadt nach München und Berlin Deutschlands Staustadt Nr. 1.

Bisher zumindest. Noch bewegen sich Mensch und Material in Hamburg auf den letzten fünf Kilometern meist automobil, wie Mario Bäumer vom Museum für Arbeit bemängelt – und „Metropolen wie London oder Paris sind deutlich radikaler“. Doch auch in Hamburg tut sich etwas, um „die Interessen aller Verkehrsteilnehmer stärker zu vereinbaren“, so Kammerexperte Christoph Färber. Von Veloroute und Fußgängerzone bis Carsharing oder A7-Deckel gräbt die Stadt dem klimaintensiven Individualverkehr den Asphalt ab. Langsam, aber nachhaltig.

Meilensteine

1273 Steinstraße: Erste gepflasterte Straße in Hamburg

1844 Eröffnung Bahnhof Altona

1866 Erste Pferdebahn

1867 Tidehafen am Sandtor

1887 Neue Elbbrücke (1970 Verbreiterung)

1906 Eröffnung Hauptbahnhof

1911 St. Pauli Elbtunnel

1912 U-Bahnring Barmbek

1960 Ost-West-Straße

1965 Gründung des HVV

1974 Köhlbrandbrücke

1974 Neuer Elbtunnel

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