Flexibel gegen Fachkräftemangel

Die Pandemie zeigt, wie händeringend Hamburgs Wirtschaft qualifiziertes Personal benötigt. Abhilfe schafft Bildung abseits formeller Pfade.
Philipp Berg (li.), Inhaber von „estancia steaks“, freut sich darüber, mit Hossein Janadle eine talentierte Restaurantfachkraft gefunden zu haben.

Von Jan Freitag, 4. Februar 2022 (HW 1/2022)

Der Arbeitsmarkt brennt. Ausgerechnet Deutschland, das die Welt mit Technik, Maschinen, Know-how und Ideen versorgt, erlebt einen Personalmangel, den Handelskammer-Präses Prof. Norbert Aust „eines der größten Geschäftsrisiken“ seiner 175.000 Mitgliedsunternehmen nennt. Schon jetzt können drei von fünf Hamburger Firmen freie Stellen nicht zeitnah besetzen. Im Jahr 2035, wenn die Generation der Boomer geschlossen in Rente ist, dürften dem Standort 127.000 Fachkräfte fehlen.

Achim Gösling©privat
Achim Gösling kümmert sich bei der Hamburger Arbeitsassistenz um Menschen, die wegen körperlicher Handicaps oder aufgrund von Lernproblemen Schwierigkeiten bei der Jobsuche haben.

Das Zauberwort heißt „Transparenz“

Gefragt sind kreative, strategische, strukturelle, vor allem frühe Lösungen, am besten noch vor der Ausbildung. Die Potenziale künftiger Arbeitsmärkte müssen nur entdeckt, gefördert, angewandt werden. Das Zauberwort heißt „Transparenz“. Trotz demografischen Wandels herrscht zwar kein Mangel an Menschen – im Grunde herrscht ja nicht einmal ein Mangel an Qualifikation –, sie sollten nur sichtbarer werden, betont Jana Kappel, die bei der Handelskammer das Bundesprogramm „ValiKom Transfer“ koordiniert.

Das Projekt validiert praktische Erfahrungen Berufstätiger, die über keinen Abschluss verfügen. Wer seine Kompetenz nicht mit einem Zeugnis bestätigen kann, erhält von Kappels Team ein Zertifikat, das volle oder teilweise Gleichwertigkeit mit Ausbildungsabschlüssen bescheinigt und Arbeitsmarktchancen ebenso erhöht wie innerbetrieblichen Aufstieg. Vorgesehen ist dieses Zertifikat für insgesamt 13 unterschiedliche Jobs, vom Hotelkaufmann bis zur Anlagenführerin. Eine Formalie, zugegeben, wenngleich von großer Bedeutung. Dokumente ohne Qualifikation sind schließlich bestenfalls Silber, Qualifikationen mit Dokument hingegen Gold wert.

Einstiegsqualifizierung

Die Einstiegsqualifizierung (EQ) versucht, Jugendlichen mit eingeschränkter Vermittlungsperspektive den Übergang in die duale Berufsausbildung zu ermöglichen. Kontakt: einstiegsqualifizierung@hk24.de, 36138-798

ValiKom Transfer

Das Projekt „ValiKom Transfer“ dokumentiert und bewertet die Fähigkeiten berufstätiger Personen ohne Abschluss und stellt für bestimmte Berufe Zeugnisse aus. Kontakt: Jana Kappel, jana.kappel@hk24.de, 36138-650

INTAS

Für eine Jahrespauschale von 250 Euro plus Erfolgsgebühr von 150 Euro übernimmt die Handelskammer beim „Integrierten Ausbildungsservice“ das gesamte Bewerbungsmanagement für Unternehmen. Kontakt: Regine Rosenau, regine.rosenau@hk24.de, 36138-485

Auch Abschlüsse bleiben wichtig

Sichtbarkeit eben. Und die darf im Kampf gegen den Personalmangel niederschwelliger sein. Womit wir bei der Hamburger Arbeitsassistenz (HAA) wären. Als einer von vielen Trägern sozialer Dienstleistungen kümmert sich die gGmbH seit 1992 um „Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf“. So nennt HAA-Mitarbeiter Achim Gösling all jene, die wegen körperlicher Handicaps, Sprachdefiziten oder Lernproblemen von Jobcentern gern als „nicht ausbildungsfähig“ abgestempelt und in der Behindertenwerkstatt geparkt werden.

Gösling findet das schon aus ethischer Sicht falsch und verweist auf Fähigkeiten, die in jeder Person ruhen. Die Chance, sie zu wecken, biete der „TalentPASS“. Ein Programm des Bundesarbeitsministeriums zur „Erfassung, Erweiterung und Zertifizierung berufsrelevanter Kompetenzen“. Anders als bei „ValiKom“ werden hier statt beruflicher individuelle Kompetenzen zu Papier gebracht – von Empathie über Disziplin bis hin zu Geschick. Das kann unbefristete Arbeitsverhältnisse nach sich ziehen, aber auch Ausbildungsverträge. Der Fachkräftebedarf bringe viele Firmen schließlich dazu, „Azubis mit geringerer Vorqualifikation aufzunehmen“, so Gösling.

Wobei auch Abschlüsse wichtig bleiben, wie das Beispiel Thomas Lück zeigt. Nach dem Abitur in Oldenburg erwarb er nach abgebrochenem Fernstudium Immobilien, um sie zu entwickeln – allerdings ohne Eignungsprüfung, so der 25-Jährige. Zum nötigen Gesamtverständnis der Branche verhalf ihm erst der „Integrierte Ausbildungsservice“ (INTAS), mit dem die Handelskammer Leistungsprofile erstellt und einem Pool beteiligter Unternehmen zur Verfügung stellt. Für 400 Euro Jahrespauschale inklusive Vermittlungsgebühr hat Mortensen Immobilien in St. Georg also jemanden ausgebildet, der nach eigener Aussage nun endlich das tut, was ihm wirklich Spaß macht: Immobilien nachhaltig digital zu modernisieren. Ein Feld, für das Thomas Lück vom Schulabschluss bis zur Berufserfahrung alles mitbringt, was notwendig ist.

Als der Iraner Hossein Janadle nach Deutschland kam, hätte er von einer Festanstellung in einem Restaurant kaum zu träumen gewagt.

Dabei lässt sich Personalnot auch mit geringerer Vorqualifikation besiegen. Die Gastronomie etwa, mit 78 Prozent freier Stellen extrem von Corona getroffen, sucht händeringend geeignetes Personal – und fand Hossein Janadle. Nach eingehender Prüfung erstellte die Grone-Schule dem Flüchtling mit Berufsziel Koch ein Zeugnis seiner Begabung zur Servicekraft. „Echt Wahnsinn“, schwärmt der Iraner in makellosem Deutsch von der Festanstellung als Restaurantfachkraft bei „estancia steaks“ in der Großen Reichenstraße. Als 20-Jähriger im Flüchtlingsheim hätte er davon „nicht mal zu träumen gewagt“.

Auch Flexibilität ist gefragt

Es sind solche Geschichten, die zeigen: Um Fachkräfte zu finden, ist neben Fachwissen auch Flexibilität gefragt. Der Wille aller Beteiligten, planierte Eignungspfade zu verlassen. In der Pandemie werden dafür sogar Pensionäre aus Industrie, Handwerk und Medizin reaktiviert.

Hamburgs Zukunft aber steckt naturgemäß am Fuß der Alterspyramide, nicht zwei Generationen darüber. Weil dort nicht alle gleich privilegiert, gebildet, veranlagt sind, müssen aus Sicht des INTAS-Teamleiters Fin Mohaupt „innovative, digitale Werkzeuge entwickelt werden“, um die ausgehungerten Betriebe mit Arbeitskraft zu versorgen. Sie reichen von Langzeitpraktika der Einstiegsqualifizierung für Jugendliche mit individuell eingeschränkter Vermittlungsperspektive bis zur dualen Ausbildungskampagne „Mach’s wie wir!“, die Arbeitsangebot und Nachfrage über soziale Medien wie Instagram vernetzt.

Um lebenslanges Lernen von Kita bis Rente zu fördern, individuellen wie gesellschaftlichen Wandel beherrschbar zu machen und Menschen nicht nur in Arbeit zu bringen, sondern auch zu halten, geht es für HAA-Arbeitsassistent Achim Gösling „um Teilhabe und Eigenständigkeit“. Formen der Selbstermächtigung also, die auch Unternehmen dabei hilft, Hamburgs größte Herausforderung nach Klimawandel und Corona zu meistern: den Fachkräftemangel von morgen. Er herrscht schließlich schon heute.

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