Herr Prof. Dr. Otto, sagen Sie eigentlich manchmal noch Otto Versand Hamburg oder immer Otto Group?
Michael Otto: Seit fast 20 Jahren spreche ich von der Otto Group, wenn wir die Unternehmensgruppe mit rund 30 Firmen meinen, und von OTTO, wenn von der Einzelgesellschaft die Rede ist. Der „Versand“ aus alter Zeit rutscht mir nur noch selten heraus.
Sie verbinden also keine nostalgischen Gefühle mit alten Katalogzeiten?
Dafür sind sie zu lang vorbei. Zumal ich bereits Anfang der 90er begonnen hatte, die Digitalisierung voranzutreiben, um uns zum E-Commerce-Unternehmen zu entwickeln. Die alte Zeit, so nostalgisch schön sie sich heute anfühlt, spielt da keine Rolle mehr. Wir machen bei OTTO 98 Prozent unserer Umsätze im Internet.
Findet man die alte Zeit dennoch im Konzern?
Ja, in Gestalt der Innovation, die uns seit jeher prägt. Wir sind ja der letzte der früheren großen Katalogversender, der überlebt hat – weltweit. Wir haben mit Hermes als einer der ersten in den 70ern einen eigenen Zustelldienst aufgebaut. Wir haben in den 80ern als einer der ersten digitale Kommunikationsformen wie BTX genutzt. Wir waren 1995 als einer der ersten mit dem gesamten Sortiment online. Wir haben als einer der ersten Next Day Delivery angeboten. Das Unternehmen hat also auf Traditionen aufgebaut, sich aber stets modernisiert. Übrigens auch das Gebäude und damit die Arbeitsbedingungen für unsere Mitarbeitenden.
Hin zu flacheren Hierarchien und Homeoffice?
Dessen Anteil betrug bei uns schon vor Corona bis zu 30 Prozent. Die ganze Arbeitsumgebung ist heute sehr viel transparenter, offener, individueller und vor allem digitaler geworden.
Ein zweiter Aspekt, den Sie persönlich seit Langem stark vorangetrieben haben …
… ist die Nachhaltigkeit.
Vorgesetzte sind heute mehr Enabler und Coaches, die den Teams die Rahmenbedingungen für das jeweilige Ziel vorgeben.
Wie definieren Sie den Begriff?
Als Erweiterung des forstwirtschaftlichen Ursprungs, dem Wald nicht mehr Bäume zu entnehmen, als darin nachwachsen: Man darf die Natur im Ganzen nicht übernutzen. Heutzutage umfasst nachhaltiges Wirtschaften allerdings nicht mehr nur Umweltschutz, sondern gleichermaßen die wirtschaftliche und soziale Verantwortung eines Unternehmens.
Das Triangle of Sustainability.
Oder die Triple Bottom Line. Dieser Dreiklang ist uns wichtig und nur mit einer Digitalisierung möglich, die über IT und Distribution hinausgeht. Digitalisierung beinhaltet einen Kulturwandel von hierarchischer zu agiler Führung mit anderer Fehlertoleranz als früher. Das heißt, Fehler im Prozess zulassen, aber schnell korrigieren, Kontrolle abgeben, Teamarbeit stärken. Vorgesetzte sind heute mehr Enabler und Coaches, die den Teams die Rahmenbedingungen fürs jeweilige Ziel vorgeben.
Das Nachhaltigkeitsdreieck ist also ein Viereck geworden?
Ja. Digitalisierung schafft, richtig eingesetzt, neue Möglichkeiten, um zum Beispiel nachhaltig klimaneutral zu wirtschaften.
Was Ihnen schon wichtig erschien, als Nachhaltigkeit noch was für Ökos im Strickpulli war. Wie kamen Sie als junger Vorstand eines Großunternehmens dazu?
Mich haben „Die Grenzen des Wachstums“ 1972 aufgerüttelt. Über diesen Bericht des Club of Rome habe ich damals viel mit dessen Mitgründer und meinem guten Freund Professor Eduard Pestel diskutiert. Dadurch wurde mir klar, wie wichtig es ist, Bewusstsein zu schaffen, aber wichtiger noch war mir zu handeln.
Digitalisierung schafft, richtig eingesetzt, neue Möglichkeiten, um zum Beispiel nachhaltig klimaneutral zu wirtschaften.
Heute gehören Sie selbst dem internationalen Club of Rome an. Wie sah Ihr Handeln damals aus?
Wir haben etwa Kartonagen zügig aus Recyclingpapier fertigen lassen. Später dann – obwohl viele Drucker meinten, das Papier sei dann nicht reißfest – haben wir Kataloge aus Papier ohne Chlorbleiche hergestellt. Nachdem wir den Umweltschutz 1986 als gleichberechtigtes Unternehmensziel mit zugehörigem Management installiert hatten, fokussierten wir uns Anfang der 90er darauf, Lieferketten umweltfreundlicher zu machen und modernere Sozialstandards zu etablieren.
Haben Sie da schon gemerkt, dass Umwelt- und Klimaschutz nicht nur unternehmerische Pflichten, sondern auch Chancen mit sich bringt?
Das habe ich früh vermutet, wurde dafür aber noch belächelt – teilweise auch innerhalb des Unternehmens. Einige meinten, wir müssen schon Umsatz und Ergebnis sicherstellen, dazu jetzt auch noch auf Umwelt und Soziales achten? Was denn noch alles … Aber peu à peu wurde allen klar, dass die Veränderung einer gesamten Unternehmenskultur Jahre braucht, aber auch ökonomisch lohnenswert ist.
Denn Mitte der 90er hat auch die Kundschaft den Wandel zunehmend als wichtig erachtet, was sich auch in Mehrumsätzen niederschlug. Seit zwölf Jahren machen wir regelmäßig Umfragen zum ethischen Konsum und stellen fest, dass die Kundinnen und Kunden nicht nur immer besser über Umweltbelange informiert sind, sondern sie auch einfordern.
Können Sie erklären, warum Nachhaltigkeit eher Lust als Last ist?
Weil sie nicht nur Kosten mit sich bringt, sondern Win-win-Situationen. Wer etwa seinen Import von Luft- auf Seefracht umstellt, hat zwar zunächst organisatorischen Mehraufwand, spart neben CO2 aber auch bares Geld. Für langfristigen Erfolg muss man heute nachhaltig wirtschaften – weil die Kundschaft es einfordert, aber auch die bestehenden und potenziell neuen Mitarbeitenden.
Nachhaltigkeit als Mittel gegen den Fachkräftemangel?
Absolut! Wir bekommen immer mehr Bewerbungen, die nicht nur unsere digitalen Herausforderungen spannend finden, sondern sich auch mit unserer Nachhaltigkeitsphilosophie identifizieren. Die Leute suchen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr nur spannende Arbeit, sondern Sinn oder wie man heute sagt: Purpose.
Es hält sich die Kritik, Versandhandel sei umweltschädlicher als stationärer Handel. Zu Recht?
Das ist ein Irrglaube. Das Bundesumweltamt hat Studien, die Distanz- mit stationärem Handel vergleichen, zusammengefasst und festgestellt, dass der Online-Einkauf sogar besser für das Klima ist. Warum? Weil die meisten nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern dem Pkw einkaufen fahren, während die Belieferung diverser Haushalte durch Kleintransporter, digital optimiert, klimaschonender ist.
Bleibt die Frage der Rücklaufquote. Je nach Zählung beträgt der Retourenanteil mindestens zehn Prozent …
Die eben genannte, positive Umweltbilanz schließt die Rücksendungen bereits ein. Dazu muss man wissen, dass über 80 Prozent der Rückläufer im Paketshop abgegeben und dort wieder in den Kreislauf eingespeist werden. Dass E-Commerce im Vergleich zum Stationärhandel nachhaltiger ist, heißt aber nicht, dass wir beim Erreichten stehen bleiben. Wir müssen gemeinsam kämpfen, überflüssige Retouren zu vermeiden. Bessere Produktbeschreibungen geben zum Beispiel die Möglichkeit, Ware aus allen Perspektiven ansehen und so vergrößern zu können, dass sogar Gewebestrukturen sichtbar werden. Außerdem animieren wir Kundinnen dazu, nicht mehrere Kleidergrößen gleichzeitig, sondern bei Bedarf nacheinander zu bestellen.
Wir müssen gemeinsam kämpfen, überflüssige Retouren zu vermeiden.
Versuchen Sie, Ihre Kundschaft zu erziehen?
Ja, aber positiv, nicht durch Verbote, Gängelei und Bepreisung. Bei bonprix gibt es etwa einen Bonus für jene, die nicht retournieren. Zudem schauen wir auf uns und wollen bis 2025 in den 80 größten deutschen Innenstädten emissionsfrei ausliefern. Hamburg soll diesbezüglich sogar bis Ende 2023 komplett CO2-frei beliefert werden.
Welche Rolle spielt Ihre Heimatstadt als Labor, aber auch Logistik- und Start-up-Cluster für die Nachhaltigkeitsbemühungen der Otto Group?
Eine wesentliche. In einem Forschungsprojekt der Universität Hamburg haben wir uns beispielsweise gemeinsam mit anderen Unternehmen mit zentralen Aspekten der Dekarbonisierung beschäftigt. Um unsere Versandtüten nachhaltiger zu machen, kooperieren wir unter anderem mit den Hamburger Start-ups Traceless und Wildplastic. Und auch unsere Mitgliedschaft in Netzwerken wie der Hamburger Logistikinitiative oder BAUM e. V. unterstützt unsere Arbeit. Trotzdem: Es ist noch viel zu tun.
Prof. Dr. Michael Otto (79) war von 1981 bis 2007 Vorstandsvorsitzender der heutigen Otto Group. Inzwischen leitet er den Aufsichtsrat der Gruppe. Seit vielen Jahren engagiert er sich für den Umweltschutz und wurde dafür unter anderem 1997 mit dem Deutschen Umweltpreis und 2002 mit dem Sustainability Leadership Award ausgezeichnet. Otto ist Ehrenvorsitzender des Stiftungsrates der Umweltstiftung WWF Deutschland, Vorsitzender des Kuratoriums der Umweltstiftung Michael Otto sowie Vorsitzender der Stiftung KlimaWirtschaft, die sich für eine CO2-neutrale Wirtschaft einsetzt.
Ist der Gesetzgeber gefragt, E-Commerce nachhaltiger zu machen?
Ich denke, wir schaffen es auch ohne weitere Gesetze, den Online-Handel klimaneutral zu machen. Wir bei der Otto Group brauchen nicht von der Politik aufgefordert zu werden, bis 2030 klimaneutral zu werden. Ein Etappenziel haben wir voriges Jahr, verglichen mit 2006, bereits übertroffen, müssen nun aber verstärkt die Lieferketten in den Blick nehmen.
Das heißt, Emissionseinsparungen jenseits der Landesgrenzen?
Genau. Es fängt bei der Baumwolle an, der mit Abstand wichtigsten Textilfaser. Da haben wir vor 15 Jahren die Aid by Trade Foundation gegründet, eine Stiftung, die afrikanischen Bauern dabei hilft, nachhaltige und sozialverträgliche Anbautechniken für höhere Erträge und damit höhere Einkommen zu entwickeln.
Dennoch bleibt Otto vor allem eine deutsche Einkaufsplattform. Was genau macht sie zum Marktplatz, wie Sie ihn vermarkten?
Otto hat sich erst zu einem Online-Händler und nun zu einer Plattform mit aktuell elf Millionen aktiven Kunden entwickelt. Darauf können Händler und Marken neben uns ihr Sortiment anbieten, sofern sie gewisse Standards erfüllen. Den lokalen unserer aktuell rund 4500 Plattformpartner bietet das die Chance, Präsenz und somit Frequenz zu erzielen. Natürlich kann es sein, dass deren Preise günstiger sind und uns auf der Plattform Konkurrenz machen. Aber das ist Marktwirtschaft und bringt am Ende mehr Nutzen für die Kunden und mehr Frequenz für unsere Produkte.
Ist der Marktplatz eine Ergänzung zum Analogen der Innenstädte – oder deren Gegner?
Ganz klar eine Ergänzung. Die Kunden unterscheiden ja gar nicht mehr zwischen den Kanälen, kaufen da und dort ein. Mit unserer Schwester ECE, Europas Marktführer im Bereich Shopping-Center, haben wir seit 2019 ein Joint Venture, das Einzelhändler der Einkaufszentren auf unsere Plattform holt. Die Kunden können dann digital bestellen und sich die Ware liefern lassen oder im Ladenlokal erst einmal anschauen und vor Ort kaufen. Das hilft beiden Sphären, weil es Online-Handel anfassbar macht und den digitalen Umsatz stationärer Läden steigert.
Trotzdem bleibt die Kritik, E-Commerce zerstöre innerstädtische Strukturen. Machen Sie wirklich eher Amazon Konkurrenz als der Mönckebergstraße?
Wir sind alle in einem täglichen 360-Grad-Wettbewerb um die Kundin und den Kunden, der sich überall informiert und überall kaufen möchte. Amazon ist da ebenso ein Konkurrent wie die Händler in der Innenstadt, in der wir mit Konzepten wie bonprix, myToys, WITT und Manufactum ja selbst präsent sind. Deshalb sehe ich die Lage differenzierter. Der Einzelhandel hat sich vielerorts selbst geschadet. Das Veröden innerstädtischer Zonen hat ja lange vor dem Siegeszug des E-Commerce eingesetzt. Warum? Weil sie immer monotoner und deshalb langweiliger geworden sind. In kaum einer City finden Sie noch Lebensmittel oder regionale Einzelhändler, dafür aber viele Ketten, die austauschbar sind.
Was aber vor allem mit explodierenden Mieten zu tun hat.
Das stimmt. Deshalb müssen Innenstädte völlig neu gedacht werden. Damit sich bestehende Händler vor Ort halten, müssen sie Omnichannel vermarkten, also sowohl online als auch analog verkaufen. Wie wichtig das ist, haben nicht zuletzt all die Lockdowns gezeigt, bei denen viele ihre Umsatzeinbußen durch die Ladenschließungen erfolgreich im Internet kompensiert haben. Auch wir haben da mit unseren Stationärmarken gute Erfahrungen gesammelt. Um neue Geschäfte anzulocken, muss sich aber auch die Struktur insgesamt ändern.
Otto hat sich erst zu einem Online-Händler und nun zu einer Plattform mit aktuell elf Millionen aktiven Kunden entwickelt.
Inwiefern?
Indem wir die Citys buchstäblich neu beleben – vor allem durch Wohnraum, aber auch Kultur, kleine Manufakturen, regionale Spezialisten und Gastronomie, Verkehrsberuhigung und Stadtbegrünung oder schöne Aufenthaltsmöglichkeiten wie auf einer italienischen Piazza als Treffpunkt. Nur: Dazu müssen die Immobilienbesitzer bereit sein, nicht immer nur die höchstmögliche Miete zu nehmen.
Nehmen Sie als Immobilieninvestor im Zweifel geringere Mieten für nachhaltigere Nutzung?
Natürlich muss das geschehen. Wir müssen Innenstädte wie Shopping-Center begreifen, bei denen ein attraktiver Mix verschiedener Angebotskonzepte mit unterschiedlichen Mieten umgesetzt werden muss. Darüber hinaus braucht es kulinarische und kulturelle Konzepte. Deshalb gehören sämtliche Stakeholder der Innenstädte an einen Tisch, damit Immobilienbesitzer, Stadtplaner, Einzelhändler gemeinsam mit der Politik besprechen, was für alle am besten ist.
Ist das etwa ein Führungsangebot?
(lacht) Als ich vor vielen Jahren im Präsidium der Handelskammer saß, wollten wir gemeinsam den Leerstand der Colonnaden angehen und haben ein Konzept entworfen, nach dem jeder Laden einzeln bewertet und gemäß seiner Größe, Umsätze, Kundschaft von einem Quartiersmanager mietmäßig eingestuft würde.
Und dann?
Hat praktisch jeder Vermieter Sonderwünsche geäußert, bis das Konzept scheiterte. Andererseits ist das 15 Jahre her; seitdem hat sich die Situation des stationären Einzelhandels so verändert, dass Vermieter nicht mehr jeden Laden nach Belieben vermietet bekommen. Es könnte sich also was bewegen, aber mir persönlich fehlt schlicht die Zeit, da über ein Grundsatzgespräch hinaus aktiv mitzuwirken.
Zu viel zu tun?
Allein schon als Aufsichtsratsvorsitzender meiner Unternehmensgruppe. Und dann in den Gremien meiner Stiftungen und darüber hinaus noch in zahlreichen Ehrenämtern. Obwohl ich da langsam Verantwortung abgebe, meint meine Frau manchmal, seit ich als Vorstandsvorsitzender ausgeschieden bin, hätte sich zeitlich eigentlich gar nicht viel geändert bei mir.
Die Otto Group ist eine weltweit agierende Handels- und Dienstleistungsgruppe. Sie beschäftigt rund 43 000 Mitarbeitende und umfasst zahlreiche Tochterunternehmen wie bonprix, BAUR Versand, Manufactum und myToys.de.
Wenn Sie die Gene Ihres Vaters haben, werden Sie mindestens 100, aber wollen Sie sich den Aufsichtsratsvorsitz auch mit 80 noch zumuten?
Ohne ein festes Datum zu nennen, werde ich mich auf jeden Fall in den nächsten Jahren aus einigen Unternehmen und Gremien zurückziehen. Aber in meinen eigenen Stiftungen bleibe ich sicher noch länger aktiv, um Themen wie Energiewende, Klima, Umwelt oder Medizin weiter zu unterstützen.
Ihr Ruhestand bleibt ein Unruhestand?
Langeweile wird jedenfalls nicht aufkommen.