Seit Juni 2022 ist bekannt: Es ist zu befürchten, dass bis 2035 rund 133 000 Fachkräfte und 27 000 Arbeitskräfte für Helferberufe in Hamburg fehlen werden – so die Schätzung des Fachkräftemonitors der Handelskammer. 61,7 Prozent der Unternehmen, die an der Konjunkturbefragung der Kammer im vorigen Herbst teilgenommen hatten, zählen den Fachkräftemangel zu den größten Geschäftsrisiken der nächsten zwölf Jahre – eine Sorge, die seit Ende 2013 kontinuierlich zunimmt.
Fachkräftemonitor
Allein in diesem Jahr könnten in Hamburg 11 000 (1,4 Prozent) beruflich qualifizierte Fachkräfte fehlen, so die Prognose des Fachkräftemonitors Hamburg auf Basis öffentlicher Statistiken und vierteljährlicher Konjunkturbefragungen der Handelskammer. Besonders großer Bedarf besteht etwa nach höher qualifizierten Kräften in Zukunftsberufen wie Mathematik, Biologie, Chemie, Physik (16,3 Prozent) oder Energietechnik (15,8 Prozent). Wie sich Angebot und Nachfrage je nach Beruf unterscheiden und wie der Trend aussieht, zeigt die interaktive Website der Handelskammer.
Sascha Schneider, Vorsitzender des Handelskammer-Ausschusses für Bildung und Fachkräfte und Chief People Officer bei Montblanc, sieht denn auch dringenden Handlungsbedarf: „Die Verfügbarkeit von qualifizierten Fachkräften ist ein wesentlicher Faktor für die weitere Entwicklung der hiesigen Wirtschaft.“ Mit ihrer Fachkräftestrategie „Menschen, Potenziale, Zukunft“ im Rahmen der Standortstrategie „Hamburg 2040“ will die Handelskammer gezielt gegensteuern (siehe auch hier). Es gilt, Menschen für eine Ausbildung zu begeistern – und auch weniger gut Qualifizierten eine Chance zu geben.
Immer mehr offene Lehrstellen
Die Schere zwischen Angebot und Nachfrage von Ausbildungsplätzen weitet sich schon im dritten Jahr in Folge. Bei den unbesetzten betrieblichen Ausbildungsstellen gab es 2022 einen neuen Höchststand, so das BIBB. Mit 8,7 Prozent offener Stellen schneidet Hamburg im Ländervergleich zwar am besten ab (Bundesdurchschnitt: 9 Prozent), am Stichtag 30. September 2022 gab es in der Hansestadt jedoch immerhin 1032 freie Plätze.
2020 sind unsere Ausbildungszahlen wegen Corona eingebrochen.
Carsten Neumann
„2020 sind unsere Ausbildungszahlen wegen Corona eingebrochen“, sagt auch Carsten Neumann, Statistikexperte bei der Handelskammer. Die Zahlen kannten seit Pandemiebeginn nur eine Richtung – nach unten: „2019 hatten wir circa 8600 Azubis, 2020 waren es 7200 und 2021 nur 7182“, berichtet Neumann.
Die aktuellen Zahlen deuten ein (vorläufiges?) Ende dieses Trends an. Im vergangenen Jahr konnte die Handelskammer bei den neuen Ausbildungsverhältnissen zulegen: 7279 neue Azubis in Handel, Industrie und Dienstleistungen bedeuten ein Plus von 1,4 Prozent gegenüber 2021. Technische Berufe legten um 6,2 Prozent zu, kaufmännische um 1,1 Prozent. Dienstleistungsberufe lagen um 2,3 Prozent unter dem Vorjahr. Aktuell wird in 4585 Mitgliedsunternehmen in Hamburg ausgebildet.
Mehr Studierende, mehr Abbrüche
Einer der Gründe des schrumpfenden Nachwuchs-Pools: Immer mehr Jugendliche erzielen einen höheren Schulabschluss und bevorzugen akademische gegenüber beruflicher Bildung – seit 2000 hat sich die Anzahl der Studierenden in der Hansestadt fast verdoppelt. Die Karrierechancen mit dualer Berufsausbildung „bedürfen dringend der gesellschaftlichen Aufwertung im Vergleich zum Hochschulabschluss“, fordert deshalb Handelskammer-Präses Prof. Norbert Aust. Schließlich bieten betriebliche Aus- und Weiterbildungen häufig genauso gute Berufsaussichten wie ein Studium – und ermöglichen auch das Erreichen von Führungspositionen.
Unsere Bewerberbasis wird schmaler.
Tim Nörnberg
Das duale Ausbildungssystem in Deutschland (siehe auch hier) gilt weltweit nicht umsonst als vorbildhaft. Nach dem Abschluss einer mittleren beruflichen Qualifikation können Fort- und Weiterbildungen zudem spezielle Fertigkeiten und eine höhere Qualifikation vermitteln. Speziell in einigen Bereichen erscheint die Ausbildung aber offenbar zum Teil nicht attraktiv genug. „Unsere Bewerberbasis wird schmaler“, erklärt etwa Tim Nörnberg, Leiter HS Management bei HS Hamburger Software. Das mittelständische Unternehmen in der City Nord hat freie Ausbildungsplätze in Fachinformatik, dafür sind logisches Denken und gute Mathe-Noten wichtig. Doch junge Menschen mit diesen Fähigkeiten entscheiden sich häufig für ein Informatikstudium – und fehlende mathematische Kenntnisse lassen sich nur schwer per Fortbildung aneignen.
Mangelnde Nachfrage gibt es aber auch in anderen Berufen, zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe. Und Martin Argendorf, Ausbildungsverantwortlicher der Spedition a. hartrodt, nennt ein weiteres Problem: Er erlebt immer öfter, dass kaufmännische Azubis „kurz vor knapp“ wieder absagen. Dabei ist die Branche in einer vergleichsweise komfortablen Lage – Kauffrau/-mann für Spedition und Logistikdienstleistungen gehört zu Hamburgs beliebtesten Ausbildungsberufen. Mehr bestandene Prüfungen verzeichnete die Handelskammer 2021 nur bei Kaufleuten für Büromanagement sowie im Einzelhandel.
Mehr Informationen zur Fachkräftestrategie „Menschen, Potenziale, Zukunft“ erhalten Sie auf der Internetseite der Handelskammer. Das Strategiepapier können Sie hier im Wortlaut nachlesen, die Leitlinien für die Standortstrategie „Hamburg 2040“ hier.
Selbst wenn Unternehmen alle Ausbildungsplätze besetzen können, ist das zudem keine Garantie für das Gewinnen künftiger Fachkräfte: 2021 wurden in Hamburg 11,1 Prozent der Ausbildungsverhältnisse vorzeitig gelöst. Wie stark das mit Corona zusammenhängt, legt die hohe Abbrecherquote im Hotel- und Gaststättengewerbe (23,8 Prozent) oder im Einzelhandel nahe, wo jede fünfte künftige Verkaufsfachkraft ausstieg.
Um alle Lehrstellen besetzen zu können, sind inzwischen häufig auch Menschen mit abgebrochenem Studium oder ohne deutschen Pass sowie Ältere willkommen. Laut Handelskammer-Statistik wurde 2021 fast die Hälfte aller neuen Ausbildungsverträge mit Abiturienten und Abiturientinnen abgeschlossen, ein Viertel der neuen Azubis hatte Real- und ein Fünftel Hauptschulabschluss, der Rest kein oder ein ausländisches Zeugnis. Den mit Abstand größten Anteil an 1685 ausländischen Auszubildenden bildeten Geflüchtete (279 aus Afghanistan, 210 aus Syrien). Aus europäischen Ländern lockt Hamburg deutlich weniger Azubis an – die meisten kamen aus Polen (91 Personen).
Mut macht indes eine Zahl des Statistischen Bundesamtes: Mit einem Durchschnittsalter von 42,2 Jahren hatte Hamburg 2021 die bundesweit jüngste Bevölkerung. Die gilt es jetzt, für berufliche Aus- und Weiterbildung zu begeistern.
Infos der DIHK
Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) liefert auf ihrer Internetseite zahlreiche Informationen zum Thema Ausbildung. Dort wird zum Beispiel erklärt, worauf es ankommt, wenn sich Mitarbeitende im Ausland weiterbilden möchten. Azubis erfahren, wie sie mithilfe des Online-Portals „Europass“ europaweit nach einem Job suchen können, und Statistiken belegen, welchen Beitrag IHKs zur Ausbildung in Deutschland leisten. Auch Vorlagen für Berufsausbildungs- und Umschulungsverträge können heruntergeladen werden.