Freihafen der Innovationen

Neues wagen, unbekannte Terrains erobern: Seit Jahren sorgen Hamburger Unternehmen für spannende Neuerungen, die weltweit Beachtung finden. Die HW stellt vier Beispiele für markante Produkte vor.
Thorsten Indra
Drohnen wie diese von HHLA Sky können zum Beispiel Ersatzteile transportieren und Industrieanlagen inspizieren.

Von Peter Wenig, 9. Dezember 2022 (HW 6/2022)

Hamburg ist Hafenstadt und Industriemetropole, ein attraktives Ziel für Reisende aus aller Welt und nicht zuletzt eine lebenswerte Millionenstadt. Doch die Hansestadt hat sich in den vergangenen Jahren fast unbemerkt von der Öffentlichkeit auch zu einer Innovationsmetropole entwickelt – zu einem „Freihafen der Innovationen“, wie der Hamburg-Marketing-Chef Dr. Rolf Strittmatter bereits 2017 ausführte.

Wir müssen Innovationen treiben, damit Hamburg zukunftsfähig und lebenswert bleibt.

Michael Westhagemann

„Innovation war noch nie so aufregend wie heute – mit scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten, die durch Technologien, Kreativität und Mut eröffnet werden“, sagte Ende Oktober Michael Westhagemann, der in Kürze sein Amt als Senator für Wirtschaft und Innovation aus gesundheitlichen Gründen niederlegen wird. Hamburg habe „durch die Branchenvielfalt beste Rahmenbedingungen, um praktische Anwendungen zu testen und zu etablieren“. Für Westhagemann steht fest: „Wir müssen Innovationen treiben, damit Hamburg zukunftsfähig und lebenswert bleibt.“

Um ein innovationsfreundliches Klima zu schaffen, entstanden in den vergangenen Jahren eine Reihe von Institutionen, die insbesondere für eine bessere Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft sorgen – etwa die von der Handelskammer und der Hansestadt finanzierte Innovations Kontakt Stelle (IKS) Hamburg. Zugleich treiben zahlreiche Unternehmen die Innovation voran – mit neuen Geräten, Forschungsprojekten und Software-Ideen. Vier dieser Unternehmen, die wegweisende Leistungen in ihrem jeweiligen Bereich erbringen, werden hier vorgestellt. Sie stehen stellvertretend für die zahlreichen Hamburger Betriebe, die die Zukunft mitgestalten.

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Daniel Nide
Matthias Gronstedt (li.) und Dr. Lothar Müller, beide Geschäftsführer von HHLA Sky

Der Hafen gilt als „Tor zur Welt“, doch für die HHLA Sky (siehe auch „Innovationen vorantreiben“), ein Tochterunternehmen der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA), ist er vor allem ein „Tor zur Zukunft“. Im Büro von Matthias Gronstedt, Geschäftsführer und Verantwortlicher für die Forschung und Entwicklung bei HHLA Sky, steht eine Trophäe aus acht Würfeln und einer Kugel: 2021 gewann das Unternehmen den Deutschen Innovationspreis, so etwas wie den Oscar der Branche, für ein Produkt, das weltweit für Aufmerksamkeit sorgt – einen skalierbaren Leitstand, der den gleichzeitigen Einsatz von mehr als 100 Drohnen erlaubt.

HHLA Sky automatisiert damit den industriellen Einsatz großer Drohnenflotten. Die Bedeutung dieser Flugobjekte nimmt zweifellos auch im zivilen Bereich immer stärker zu. Sie inspizieren Industrieanlagen aus großer Höhe, ermitteln Witterungsverhältnisse für Wettervorhersagen, begutachten Pflanzen in der Landwirtschaft und gelten als Warentransportmittel der Zukunft. Bislang sind allerdings die gesetzlichen Vorschriften sehr streng. In der Regel darf ein Drohnenpilot nur eine Drohne steuern. „Das rechnet sich für die Industrie nicht“, sagt Matthias Gronstedt.

Über den HHLA-Sky-Leitstand lassen sich auch weitere dieser Fluggeräte am Boden oder auf dem Wasser ansteuern, sogar in Entfernung von mehreren Tausend Kilometern – allerdings ausschließlich zu industriellen Zwecken. Die Herausforderungen sind enorm. HHLA Sky muss Industriestandard liefern, also garantieren, dass keine der ferngesteuerten Drohnen Mensch und Umwelt gefährdet. „Sie dürfen nicht abstürzen“, sagt Lothar Müller, ebenfalls Geschäftsführer von HHLA Sky.

Eine direkte Einsatzmöglichkeit des Systems bestehe im Hamburger Hafen, wo Drohnen bereits heute Containerbrücken etwa auf mögliche Schäden inspizieren. Sie liefern Infrarotbilder, die dann Fachleute auswerten. Wer mit den beiden Geschäftsführern spricht, spürt ihren Elan. „Das offensichtlich nicht Lösbare technisch möglich zu machen, ist das, was mich antreibt“, sagt Gronstedt, Informatiker und Automatisierungsexperte. Lothar Müller beschäftigt sich seit Jahren mit Drohnen-Projekten und IT-Vernetzungen. Der promovierte Maschinenbau-Ingenieur lebt seine Begeisterung für Technik auch in seiner Freizeit aus. „Bevor ich einen Handwerker für meine Wärmepumpe hole“, erzählt er, „baue ich die lieber erst einmal selbst auseinander.“

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LUIS Technology
Radfahrende im „toten Winkel“ erkennen: Abbiegeassistenten wie die von LUIS Technology helfen, Unfälle zu vermeiden.

Nur wer wirklich für seine Idee brennt, kann Innovatives schaffen. Das offenbart auch die zweite Station unserer Reise durch die Hamburger Innovationsszene. Martin Groschke, Geschäftsführer von LUIS Technology am Hammer Deich in Hammerbrock, ist begeisterter Radler. Und der Albtraum vieler Radfahrender ist ihm sehr präsent, auch als Vater von zwei Kindern: von einem Lkw überrollt zu werden, dessen Fahrer die Person auf dem Rad beim Rechtsabbiegen aufgrund des toten Winkels seines Rückspiegels übersieht. Viele dieser Unfälle ließen sich vermeiden, wenn Lkw mit Abbiegeassistenten ausgerüstet wären. LUIS Technology ist in diesem Bereich Marktführer in Deutschland.

Das Prinzip: Eine am Lkw montierte Kamera überträgt Bilder aus dem rechten Bereich des Fahrzeugs auf einen Monitor in der Fahrerkabine. Erkennt das System im Gefahrenbereich ungeschützte Verkehrsbeteiligte – etwa zu Fuß, auf dem Rad oder auf dem Tretroller –, warnt es die Person am Steuer des Trucks über ein optisches Signal. Beabsichtigt der Lkw abzubiegen und besteht die Gefahr einer Kollision, ertönt zusätzlich ein Warnton.

Es ist wichtig, dass Radfahrer und Fußgänger begreifen, dass der Trucker oft im Blindflug unterwegs ist.

Martin Groschke

„Wir haben das System in der vierten Generation so weiterentwickelt, das es wirklich nur piept, wenn ein Unfall droht“, sagt Groschke. Und genau das ist das Herausragende an der in Hamburg gefertigten Technologie: Andere Systeme reagieren zum Teil sogar auf parkende Autos mit einem Piep, was dazu führen kann, dass das Geräusch den Fahrer nervt – oder er es auf Dauer sogar ignoriert. „Wir müssen immer auch den Trucker im Blick haben“, sagt Groschke, der beim Vorführen des Systems gern in die Fahrerkabine eines Lkw bittet. Denn hier kann er anschaulich vorführen, dass der Mensch am Steuer häufig kaum sieht, was unmittelbar neben ihm passiert. „Es ist wichtig, dass Radfahrer und Fußgänger begreifen, dass der Trucker oft im Blindflug unterwegs ist, und im Zweifel auf ihr Vorfahrtsrecht verzichten.“

Zahlreiche kommunale Unternehmen, darunter die Hamburger Stadtreinigung, haben ihre Fahrzeuge inzwischen mit dieser Technologie nachgerüstet. Dass manche Speditionen noch zögern, ist wirtschaftlich kaum nachvollziehbar – schließlich liegt der Preis pro Abbiegeassistent bei nur 1500 Euro und kann durch entsprechende Förderung auf 200 bis 300 Euro sinken. Vorgeschrieben ist der Abbiegeassistent allerdings erst ab Juli 2024 – und nur für alle neu zugelassenen Fahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht.

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IfAÖ GmbH/GICON-Gruppe
Dr. André Woiterski, Projektleiter am Institut für Angewandte Ökosystemforschung

Die nächste Station unserer Innovationsreise führt uns in die Osterstraße in Eimsbüttel. Hier residiert eine Filiale des Institutes für Angewandte Ökosystemforschung GmbH (IfAÖ), das seit fast 30 Jahren die Lebensräume von Pflanzen und Tieren an Land und zu Wasser untersucht und bewertet. Ein Projekt dieser privatwirtschaftlichen Forschungseinrichtung, die Unternehmen, Landes- und Bundesbehörden berät, sorgt derzeit für besonderes Interesse: die „Intelligent Sea Animal Detection“ (ISEAD). Sie soll in Zukunft helfen, Vögel und Meeressäuger auf Bild- und Videomaterial 50-mal schneller als sonst üblich zu erkennen. Wichtig ist das Forschungsvorhaben für den Bau von Windkraftanlagen auf hoher See. Denn um die Genehmigung dafür zu erhalten, ist eine Untersuchung ihrer Auswirkungen auf die Umwelt vorgeschrieben. Deshalb gilt es etwa zu ermitteln, wo Brut-, Zug- und Rastvögel fliegen oder Schweinswale schwimmen.

Im Rahmen dieses „Screenings“ erfolgen zunächst Flüge über das jeweilige Gebiet, bei denen Millionen Bilder und Videodateien entstehen. Pro Flug werden aus einer Höhe von etwa 700 Metern rund vier Terabyte Bild- und Videomaterial aufgenommen. Das Material liefert das vom IfAÖ entwickelte digitale Luftbildsystem DAISI. Bisher ist die Analyse dieser Daten jedoch extrem aufwendig. „Viele Mitarbeitende werten sie am Schreibtisch aus“, sagt  Projektleiter Dr. André Woiterski. „Sie identifizieren Objekte, die später von Biologen bestimmt werden können. Der Personalaufwand ist enorm hoch.“

Das Programm ISEAD soll nun dafür sorgen, diesen Aufwand stark zu reduzieren. „Ein Mensch durchsucht ein Bild nach Objekten in sechs Minuten. Künstliche Intelligenz schafft den gleichen Prozess in wenigen Sekunden“, so Woiterski. Das Besondere: ISEAD gleicht dem neuronalen Netz eines Gehirns. Es wird mit Daten gefüttert, damit es lernen kann. Und es muss noch viel lernen, etwa Algenteppiche von Rücken großer Meeressäuger zu unterscheiden. Die genaue Artenbestimmung wird dann weiterhin von hochqualifizierten Biologinnen und Biologen übernommen. Wie viele andere Innovationsprojekte, lebt auch ISEAD vom Zusammenspiel von Wirtschaft und Wissenschaft. Das IfAÖ arbeitet dafür eng mit dem Hamburger Informatik Technologie-Center e. V. (HITeC) zusammen.

Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen, aber auch Start-ups und große Unternehmen können von der Zusammenarbeit mit der Wissenschaft profitieren.

Katharina Keienburg

„Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen, aber auch Start-ups und große Unternehmen können von der Zusammenarbeit mit der Wissenschaft profitieren – gerade in Bereichen, die außerhalb des eigenen Forschungs- und Entwicklungsbereiches liegen“, sagt Katharina Keienburg, Beraterin bei der Innovations Kontakt Stelle Hamburg, die das Kooperationsprojekt vermittelt hat. „Hochschulen und andere wissenschaftliche Einrichtungen bieten langjährige Erfahrung, produzieren fortwährend neue Erkenntnisse und können daher auch zukünftige Entwicklungen aus ihrem Forschungsumfeld absehen. Die Erkenntnisse können für die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen oder auch zur Optimierung von Verfahren verwendet werden.“ Die Hamburgische Investitions- und Förderbank (IFB) fördert das Projekt mit 300 000 Euro.

Mit dem HITeC kooperiert auch die Firma Nachtblau in Eppendorf, deren innovatives Projekt ebenfalls durch die IKS vermittelt wurde. Auch sie erhält eine Förderung der IFB. Das Thema, dem sich der Videoproduktionsdienst widmet, ähnelt dem des IfAÖ: Wie lassen sich riesige Datenmengen professionell verarbeiten? Nachtblau-Geschäftsführer Marc Jonas zeigt zunächst das von seiner Firma entwickelte Videotool „Medialoopster“, das schon viele Sender und Verlage nutzen. In der Suchmaske der Aufzeichnung eines Champions-League-Spiels des FC Bayern gibt er das Stichwort „Goals“ ein. Wie von Zauberhand zeigt das neue Video nur noch die sechs Tore des Spiels.

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Marc Jonas, Geschäftsführer der Nachtblau GmbH

Dank Künstlicher Intelligenz (KI) kann das Programm über Gesichtserkennung und Meta-Beschreibungen in einem gigantischen Videoarchiv auch Szenen mit Einzelpersonen herausfiltern, etwa alle Videoausschnitte mit der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Vorteile der Software liegen auf der Hand: Die Fotos oder Videosequenzen müssen nicht mehr mühsam von Hand gesichtet werden. Das Programm liefert die Schnittbilder quasi frei Haus, der dann folgende Feinschnitt durch Profis geht ungleich schneller.

Die nächste Stufe dieses Programms wird demnächst zünden. Mit dem „Intelligenten Medienproduktions-Assistenten“ (IMPA) soll gelingen, was noch vor wenigen Jahren wie Science-Fiction klang. Das Prinzip: Nach der Eingabe eines Textes findet IMPA dank KI gezielt das passende Videomaterial und stellt es für den Schnitt zur Verfügung. Besonders Verlagen, die seit vielen Jahren auch auf Bewegtbild setzen, sollen sich so neue Chancen bieten – sie können ihren Datenschatz aus Abertausenden Videos weit besser heben.

Das ambitionierte Projekt wurde ebenfalls nur durch den Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft möglich. „Wir arbeiten dank HITeC mit mehreren Wissenschaftlern exzellent zusammen“, sagt Marc Jonas. Auch dank solcher Institutionen bietet Hamburg beste Voraussetzungen für die Entwicklung weiterer spannender Ideen – im „Freihafen der Innovationen“ warten noch viele Schiffe darauf, auf große Fahrt in die Zukunft zu gehen.

Sich vernetzen

Für gelungene Innovationen ist die Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft essenziell. In Hamburg dienen dazu insbesondere zwei Institutionen: Die Innovations Kontakt Stelle (IKS) Hamburg und das Hamburger Informatik Technologie-Center e. V. (HITeC). Die 2011 gegründete, von der Handelskammer und der Hansestadt finanzierte Innovations Kontakt Stelle versteht sich als „Anlauf- und Schaltstelle für alle Kooperationsinteressierten aus der Hamburger Wirtschaft und Wissenschaft“. Die IKS bietet direkte Kontakte zu wissenschaftlichen Einrichtungen und wichtigen Branchen in Hamburg, unterstützt Unternehmen, Existenzgründungen und wissenschaftliche Einrichtungen bei Innovationen. Dabei kann es um die Bereitstellung von Laborausstattung gehen, um fachliche Auskunft und Gutachten, Auftragsforschung und Studien oder sogar die Auslagerung einer Entwicklung. Das Hamburger Informatik Technologie-Center e. V. des Fachbereiches Informatik der Universität Hamburg bietet eine Reihe von Kooperationsmöglichkeiten für Unternehmen: Kontakte zu IT-Forschenden und zu Studierenden, Projektmanagement, Durchführung von Forschungsvorhaben im Bereich Digitalisierung und IT, Unterstützung bei Firmengründungen.

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