Wie wir zukünftig leben wollen, das hat die Handelskammer unlängst in ihrer Standortstrategie für das gar nicht mehr so ferne Jahr 2040 zur Diskussion gestellt – und ein Fragefürwort hinzugefügt: wovon? Ein wichtiges Interrogativpronomen, dem allerdings dringend eine weitere Fragestellung folgen müsste, die für Hamburg mindestens von ebenso großer Bedeutung ist: mit welcher Belegschaft?
Im aktuellen Arbeitsmarktmonitor hat die Handelskammer viele ihrer rund 170.000 Mitgliedsunternehmen nach ihrer Personaldecke befragt und besorgniserregende Antworten erhalten. 58 Prozent der befragten Betriebe können zurzeit offene Stellen nicht adäquat besetzen. Im Bau- und Gastgewerbe geben sogar fast vier von fünf Firmen an, zurzeit vergeblich geeignetes Personal zu suchen.
Bis 2035 prognostiziert die 38-seitige Fachkräfteanalyse unter Federführung von Michaela Beck und Anna Maria Heidenreich („Team Heideck“) dem Standort rein rechnerisch 642.000 hinreichend qualifizierte Arbeitskräfte. Verglichen mit heute 217.000 weniger – und das in einer global vernetzten Ökonomie, die angesichts von Rohstoffmangel und Krisen, Demografie und Digitalisierung unberechenbar bleibt.
Dieses düstere Szenario darf nicht eintreten.
Norbert Aust
„Ausgeprägter Fachkräftemangel“, meint Michaela Beck, „kennzeichnet faktisch alle Branchen, die ja ausnahmslos durch Renteneintritte der Babyboomer-Generation betroffen sind.“ Weil Gewerbetreibende außerdem nicht nur mit Unternehmen, sondern auch mit Freiberuflern oder dem öffentlichen Sektor ums Personal konkurrieren, könnte die Lücke in 13 Jahren auch gut 127.000 Fachkräfte betragen. „Dieses düstere Szenario darf nicht eintreten“, konstatiert Handelskammer-Präses Prof. Norbert Aust im Statement zur Studie und nennt „Stellschrauben, mit denen Politik und Wirtschaft im engen Schulterschluss mit Wissenschaft und Gesellschaft Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt wieder in Balance bringen können“.
Ungelernte ausbilden und Angelernte fortbilden, Technikaffinität steigern und Arbeitsbedingungen verbessern, Erwerbsbeteiligung erhöhen und Zuwanderung – die Personalanalyse zählt die Förderung vieler Methoden gezielter Mangelbewältigung auf. Das Problem: Nicht wenige wirken eher lang- als kurzfristig. Und bei zwei von drei Kammermitgliedern sorgen sie nicht nur für Mehrbelastungen der aktuellen Belegschaft, sondern ebenso viele rechnen auch mit steigenden Betriebskosten.
Ein Teufelskreis
Kein Wunder, dass nur 12,5 Prozent aller befragten Unternehmen negative Folgen für die Geschäftstätigkeit der kommenden zwölf Monate ausschließen. Knapp doppelt so viele befürchten hingegen Verluste der eigenen Innovations-, also Wettbewerbsfähigkeit, während ein gutes Drittel befürchtet, das Angebot für die Kundschaft einschränken zu müssen und damit Aufträge zu verlieren. Das wiederum würde die anderen Probleme weiter verschärfen. Ein Teufelskreis. Immerhin: Die Fachkräfteanalyse gibt Anzeichen, wie er zu durchbrechen wäre.
Sechs von zehn Kammermitgliedern versicherten im Herbst, die Attraktivität ihrer Erwerbsstellen steigern zu wollen. Etwa durch bessere Bezahlung, flexiblere Arbeitszeiten oder digitales Homeoffice. Auch die Ausbildung soll für 40 Prozent der Firmen weiter an Bedeutung gewinnen, während fast ebenso viele abseits der Einstellung älterer (24,5 Prozent) und ausländischer (28,3 Prozent) Arbeitskräfte auf eine Schlüsseltechnik fortschrittlichen Beschäftigungsmanagements setzen: Work-Life-Balance, also die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Appell an Institutionen, Verbände und Unternehmen
Wenn alle Sphären der Gesellschaft zudem die Lebensqualität der Metropolregion im Blick haben und von einer humanen Gesundheitspolitik über bezahlbare Wohnungen bis hin zur Neugestaltung innerstädtischer Mobilität die Zukunftsthemen fernab der Büros und Fließbänder anpacken, könnte es folglich klappen mit der großen Herausforderung für den Standort Hamburg abseits von Corona, Rechtsruck und Klimakrise – sofern sämtliche Beteiligten der Zivilgesellschaft am selben Strang ziehen.
„Wir appellieren an alle Institutionen, Verbände und vor allem Unternehmen, dieser Herausforderung von fundamentaler Bedeutung für die Hamburger Wirtschaft mit uns gemeinsam zu begegnen“, fordert Norbert Aust im Vorwort der Fachkräfteanalyse. Denn 2035 mag noch fern wirken. Der Personalmangel von morgen allerdings, er herrscht schon heute.
Branchenüberblick
Die elf großen Hamburger Wirtschaftszweige erwarten bis zum Jahr 2035 unterschiedlich hohen Personalbedarf. Am größten könnte er bei den 86.656 Handelskammer-Mitgliedern wirtschaftsnaher, personenbezogener oder öffentlicher Dienstleistungen sein, die in 14 Jahren insgesamt 31.300 unbesetzte Stellen erwarten. Die 44.503 Unternehmen im Groß- und Einzelhandel hingegen rechnen mit insgesamt 19.000 fehlenden Fachkräften. Ebenso viele befürchten 22.430 Firmen im Bereich Kommunikation. Im Verhältnis zur Zahl der Betriebe von 2917 droht dem Sektor Gesundheit und Soziales mit 8700 fehlenden Fachkräften der größte Personalengpass.
Fachkräftemangel-Prognose für 2035
• Personenbezogene und sonstige Dienstleistungen (38.730 Betriebe): -15.800 Fachkräfte • Groß- und Einzelhandel (32.840 Betriebe): -19.000 Fachkräfte • Beratende und wirtschaftsnahe Dienstleistungen (26.500 Betriebe): -19.000 Fachkräfte • Information und Kommunikation (22.430 Betriebe): -19.000 Fachkräfte • Finanzsektor (12.448 Betriebe): -4500 Fachkräfte • Verkehr / Logistik / Lager (11.663 Betriebe): -6500 Fachkräfte • Baugewerbe (9119 Betriebe): -5600 Fachkräfte • Industrie (7251 Betriebe): -14.700 Fachkräfte • Gastgewerbe (6773 Betriebe): -7600 Fachkräfte • Öffentliche Dienstleistungen (3426 Betriebe): -6500 Fachkräfte • Gesundheit / Soziales (2917 Betriebe): -8700 Fachkräfte
Details unter www.fkm-hamburg.de. Das Analysepapier unter www.hk24.de/fachkraefte2040